Wir sind autistisch und das ist gut so.

Manche Studierenden ziehen für ihr Studium in eine andere Stadt, aber es gibt auch Studierende, die für während ihres Studiums zu Hause bei ihrer Familie wohnen. Mit dem Übergang zum Erwachsenensein wird sich dein Verhältnis zu deinen Eltern wahrscheinlich verändern.

Diese Veränderung ist ganz natürlich; wir übernehmen mehr Verantwortung im Tausch gegen mehr Unabhängigkeit. Tatsächlich sind diese Veränderungen sehr wichtig und müssen stattfinden, damit die viele notwendige Lebenskompetenzen entwickeln kannst und ausreichend darauf vorbereitet bist, auch außerhalb der Familie erfolgreich zu sein.

Das Zusammenleben mit der Familie während des Studiums bietet autistischen Studierenden die Möglichkeit, sich allmählich auf die Anforderungen des Erwachsenenlebens vorzubereiten.

Verantwortung im Haushalt übernehmen

Vielleicht hast du als Kind Aufgaben bekommen, die du erledigen musstest, und vielleicht hast du dafür ein Taschengeld bekommen. Leider bekommt man als im Erwachsenenalter keine Belohnung mehr dafür, diese Aufgaben im Haushalt zu erledigen, sie sind jetzt unumgängliche Notwendigkeiten.

Wenn du zu Hause mit deiner Familie lebst, ist es einfacher, diese Aufgaben zu umgehen, aber dadurch verzichtest du auch auf die Möglichkeit, viele wichtige lebenspraktische Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn du alleine leben würdest, würdest du deine Wäsche waschen und die Wohnung putzen; und du solltest versuchen, so viel wie möglich davon selbst zu machen, während du zu Hause wohnst.

Mach dir keine Sorgen, wenn du nicht weißt, wie man eine Waschmaschine bedient oder ein Hemd bügelt. Einer der Vorteile des Zusammenlebens mit der Familie ist, dass du um Hilfe bitten kannst.

In einem geschäftigen Haushalt ist es vielleicht nicht möglich oder sinnvoll, dass jeder seine Aufgaben unabhängig voneinander erledigt, daher ist es vielleicht logischer, wenn einige Aufgaben geteilt werden. Setzt dich mit deiner Familie zusammen und erstellt einen umfassenden Zeitplan, in dem die Aufgaben, die jedes Mitglied des Haushalts erledigen soll, gerecht aufgeteilt sind und bis wann sie erledigt werden sollen.

Ein Zeitplan wird dir auch helfen, organisiert zu bleiben. Jetzt, wo du erwachsen bist, sollte es eher nicht mehr nötig sein, dass andere dich an deine Pflichten erinnern.

Diese »geteilten« Verantwortlichkeiten sollten sich nicht auf deinen persönlichen Bereich erstrecken. Du solltest zum Beispiel immer dein eigenes Zimmer aufräumen. Dabei geht es nicht nur darum, dass du deinen eigenen Raum in Besitz nimmst, sondern auch darum, die Privatsphäre zu wahren, auf die du als Erwachsene*r ein Recht hast.

Tipps:

  • Der Haushaltsplan kann bei Bedarf angepasst werden. Redet darüber, wenn es Schwierigkeiten gibt.
  • Es ist sinnvoll, verschiedene Aufgaben für einige Zeit zu übernehmen, damit du mit allen wichtigen Bereichen des Haushalts vertraut bist.
  • Wenn du mit bestimmten Aspekten nicht zurecht kommst, sprecht frühzeitig darüber. In der Regel lässt sich eine Lösung finden.

Eigenverantwortung

In vielerlei Hinsicht ist Eigenverantwortung die Essenz des Erwachsenseins. Die Kontrolle über das eigene Leben zu übernehmen, ist eine beängstigende, aber auch aufregende Erfahrung. Da jeder Mensch anders ist, gibt es kein bestimmtes Alter, in dem eine Person, unabhängig davon, ob sie erwachsen ist oder nicht, vollständige Selbstständigkeit erlangen sollte.

Es ist jedoch wichtig, dass du dir einen Teil der Verantwortung zurückholst, die deine Eltern oder Erziehungsberechtigten während deiner Kindheit für dich übernommen haben, auch wenn du noch zu Hause wohnst. Hier sind einige Möglichkeiten, wie du dich in Eigenverantwortung üben kannst:

  • Die Zeit einhalten – sicherstellen, dass du zu einer angemessenen Zeit aufstehst und schlafen gehst, die am besten zu deinem Zeitplan passt, einen Kalender führen, in dem du alle deine Termine und Fristen einträgst, eine tägliche »To-Do-Liste« erstellen usw..
  • Gesund bleiben – Rezepte für einfache, nahrhafte Mahlzeiten sammeln und lernen, diese selbst zuzubereiten, daran denken, in regelmäßigen Abständen über den Tag verteilt zu essen und sich bei Bedarf daran erinnern lassen, einen Wecker stellen, der dich an die Einnahme von Medikamenten erinnert, dich ausreichend bewegen und Zeit im Freien verbringen usw.
  • Für dein Wohlbefinden sorgen – dich regelmäßig waschen, dir ausreichend Zeit nehmen, um dich zu entspannen und zu erholen, z. B. ein Buch lesen, spazieren gehen, mit einem Freund reden usw.

Pflege eine positive Beziehung zu deiner Familie

Manche Leute erwarten, dass sie am Morgen ihres 18. Geburtstags als völlig erwachsen und selbstständig aufwachen. Während das Gesetz dich ab deinem 18. Geburtstag als volljährig anerkennt, wird es wahrscheinlich länger dauern, bis Eltern und andere Familienmitglieder das auch tun. Das mag frustrierend sein, aber der Übergang von der Jugend zum Erwachsensein ist für deine Eltern genauso eine Umstellung wie für dich.

Versuche in dieser Zeit geduldig zu sein und eine ehrliche Kommunikation zu führen. Wenn du das Gefühl hast, dass ein Familienmitglied zu fürsorglich ist und die nicht genug eigene Entscheidungen überlässt, sprich mit ihm darüber. Dasselbe gilt, wenn du dich überfordert fühlst und nicht bereit bist, einen Großteil der Verantwortung als Erwachsene*r zu übernehmen. Kommunikation ist der Schlüssel zu einer guten Familiendynamik.

Raum ist ebenfalls entscheidend. Es ist wichtig, einen Raum zu schaffen, in den du dich zurückziehen kannst, wenn dir das Chaos des Familienlebens zu viel wird. Das kann dein Zimmer sein, muss es aber nicht, denn es kommt darauf an, was für dich und deine Familie passt. Das Wichtigste ist, dass dieser Raum ruhig und sensorisch ansprechend ist und dass du dort deine Privatsphäre hast.

Wenn es dir nicht möglich ist, einen eigenen Raum zu haben, besprich mit deiner Familie, zu welchen Zeiten du am meisten Ruhe brauchst, und arbeitet gemeinsam daran, dies so gut wie möglich zu ermöglichen. Es kann von Vorteil sein, wenn jedes Familienmitglied den Tagesablauf des anderen grob kennt, denn das hilft, mögliche Konflikte und Überfüllung zu vermeiden.

Als Erwachsene*r bei der Familie zu leben, kann eine sehr gute Situation sein. Es kann von Vorteil sein, in einer komfortablen und unterstützenden häuslichen Umgebung zu bleiben, während du diese prägenden (und oft schwierigen) Jahre durchlebst. So hast du genügend Zeit, dich an die Verantwortung des Erwachsenseins zu gewöhnen und deine Unabhängigkeit zu stärken.

Zuletzt bearbeitet am 01.12.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus