Asperger-Syndrom: Von "kleinen Professoren" zur Aspie-Identität
Inhaltsverzeichnis
Die erste Beschreibung durch Hans Asperger
1944 veröffentlichte der Wiener Kinderarzt Hans Asperger seine Habilitationsschrift über „Die ›Autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter“[1]. Darin beschreibt er die vier Jungen Fritz V., Harro L., Ernst K. und Hellmuth L., die bestimmte gemeinsame Züge aufweisen, die Hans Asperger als charakteristisch für die »autistische Psychopathie« bezeichnet.
Diese bezeichnet er als »Kontaktstörung« und beschreibt die Sprache und den Blick der Kinder als ungewöhnlich:
[…] die Sprache wirkt auch auf den naiven Zuhörer unnatürlich, wie eine Karikatur, zu Spott herausfordernd. Und noch eins: sie richtet sich nicht an einen Angesprochenen, sondern ist gleichsam in den leeren Raum hineingeredet, so wie meist auch der Blick nicht den Partner trifft und festhält, sondern an ihm vorbeigeht.
Auch bezeichnet Asperger die autistischen Kinder als »arm an Mimik und Gestik«. Ein Kapitel seiner Arbeit widmet er der »autistischen Intelligenz«, zu der er ausführt:
Diese Kinder können vor allem spontan produzieren, können nur originell sein, können aber nur in herabgesetztem Maße lernen, nur schwer mechanisiert werden, sind gar nicht darauf eingestellt, Kenntnisse von den Erwachsenen, etwa vom Lehrer, zu übernehmen: Die besonderen Fähigkeiten und die besonderen Schwierigkeiten dieser Menschen liegen darin begründet – wie denn überhaupt bei jedem Menschen seine Vorzüge und seine Fehler untrennbar zusammengehören.
Als ein weiteres Merkmal der »autistischen Psychopathie« nennt Asperger deren Konstanz:
Hans Aspergers Arbeit erreichte nur ein kleines Publikum und blieb außerhalb des deutschsprachigen Raums jahrzehntelang völlig unbekannt. Zeitgleich mit Asperger hatte auch Kanner etwas beschrieben, das er »Autismus« nannte – und als Aspergers Arbeit schließlich wiederentdeckt wurde, befand man, dass Asperger und Kanner nicht nur denselben Begriff gewählt hatten, sondern auch etwas sehr Ähnliches beschrieben hatten. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 80er, war das Bild von Autismus geprägt von einem völlig zurückgezogenen, nichtsprechenden und emotionslosen Kleinkind.Schon vom 2. Lebensjahr an sind seine Züge unverkennbar. Sie bleiben durch das ganze Leben bestehen. […] Die Schwierigkeiten, die das Kleinkind mit dem Erlernen der einfachen Fähigkeiten des praktischen Lebens und mit der sozialen Anpassung hat, kommen aus der gleichen Störung, welche auch die Lern- und Benehmungsschwierigkeiten des Schulkindes zur Folge hat, welche die Berufsschwierigkeiten und die Sonderleistungen des Jugendlichen bewirkt und welche aus den Ehe- und den sozialen Konflikten des Erwachsenen spricht.
Lorna Wing, die Aspergers Veröffentlichung wiederentdeckte, war der Ansicht, dass es viele Personen gab, die in dieses Bild nicht hineinpassten, auf die jedoch viele der Charakteristiken zutrafen, die als autistisch beschrieben wurden. Sie beschloss, diese abweichende Form von Autismus zu Ehren von Hans Asperger »Asperger-Syndrom« zu nennen.
Mehr über Hans Asperger
Lorna Wings Wiederentdeckung des »Asperger-Syndroms«
Lorna Wing[2] definierte das Autismus-Spektrum als eine »Triade der Beeinträchtigungen« (triad of impairments): als Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, Kommunikation und des sozialen Verständnisses.
Das Asperger-Syndrom nach Lorna Wing
Damals, in den 80ern, war die allgemeine Meinung, dass die meisten Autisten »geistig behindert« seien, und dass sie erst spät oder gar nicht zu sprechen anfängen (»hochfunktionaler« Autismus galt als seltene Ausnahme). Wing stellte nun fest[3], dass es Personen gab, die zwar autistische Charakteristika (die genannte »triad of impairments«) aufwiesen, aber schon früh anfingen zu sprechen und deren IQ im normalen bis hohen Bereich lag. Diese bekamen jetzt die Diagnose Asperger-Syndrom. Viele von ihnen gingen auf Regelschulen, studierten oder hatten einen Beruf, lebten alleine oder mit ihrer Familie in einer eigenen Wohnung – kurz, sie entsprachen nicht dem üblichen Vorstellungen von einem autistischen Menschen. Dennoch hatten sie immer wieder Schwierigkeiten im Leben, und Lorna Wing hoffte, dass die Diagnose ihnen helfen würde, Unterstützung zu bekommen, wenn sie solche benötigten.
Das Asperger-Syndrom in den Diagnosehandbüchern
1990 wurde die Diagnose Asperger-Syndrom in die neue Auflage des ICD aufgenommen, 1994 in das DSM.
Die beiden Diagnosehandbücher listen eine Reihe von Kriterien für eine Diagnose des Asperger-Syndroms auf:
- Die soziale Interaktion ist ungewöhnlich oder beeinträchtigt. Das heißt beispielsweise, dass Blickkontakt, Körperhaltung, Mimik und Gestik nicht zur Steuerung der sozialen Interaktion verwendet werden und solche Signale von anderen nicht verstanden werden, dass keine altersgemäßen Beziehungen zu Gleichaltrigen aufgebaut werden, dass die Reaktion auf die Emotionen anderer Menschen »unzulänglich oder von der Norm abweichend« ist und dass die Person keinen spontanen Wunsch verspürt, mit anderen Menschen Vergnügen, Interessen und Errungenschaften zu teilen (z.B. ein selbstgemaltes Bild zu zeigen).
- Die Person »legt ein ungewöhnlich starkes, sehr spezielles Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten an den Tag«. Das kann die intensive Beschäftigung mit einem speziellen Interessengebiet sein, die »sture Befolgung spezifischer, nonfunktionaler Routinen und Rituale«, »stereotype und repetitive motorische Manierismen« wie z.B. das Schnippen oder Drehen der Finger oder komplexe Bewegungen mit dem ganzen Körper, oder auch die anhaltende Beschäftigung mit Teilgegenständen, z.B. mit der Oberflächentextur oder dem Geräusch, das sich damit hervorrufen lässt.
- Die Entwicklung der gesprochenen Sprache und des Sprachverständnisses sowie die kognitive Entwicklung darf nicht verzögert sein.
Das ICD bezeichnet zudem motorische Ungeschicklichkeit als häufig, wenngleich sie kein Diagnosemerkmal ist. Hier findest du die Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom im ICD-10.
Wenn du dich fragst, ob du oder dein Kind das Asperger-Syndrom habt, kann unser Online-Test eine erste Einschätzung geben.
Die Entdeckung von »Aspie«
Seit Ende der 90er steigt die Bekanntheit des Asperger-Syndroms stark an. Ein Grund dafür: das Internet. Autistische Menschen gründeten Newsgroups, Foren, Websites und Mailinglisten, um einander kennenzulernen und sich auszutauschen. Dadurch erfuhren immer mehr Menschen vom Asperger-Syndrom, und einige von ihnen stellten fest, dass sie sich in den Beschreibungen wiederfanden. Viele von ihnen störten sich an der negativen Beschreibung des »Asperger-Syndroms«. Liane Holliday Willey prägt in ihrer Autobiografie “Pretending to be normal” 1999 den Begriff »Aspie«.
Einige ziehen Parallelen zwischen Aspies und Geeks/Nerds, denen ebenfalls spezielle Fähigkeiten auf einem umgrenzten Gebiet zugesprochen werden, jedoch wenig soziale Kompetenz. Andere sagten, sie fühlten sich wie Außerirdische auf dem falschen Planeten – sie seien nicht defekt, aber die Kommunikation mit den Erdlingen sei schwierig.
Vor diesem Hintergrund schrieben Carol Gray und Tony Attwood ihren Artikel »Die Entdeckung von Aspie». Im Gegensatz zu einer Diagnose, schreiben sie, »bezieht sich der Begriff Entdeckung auf die Stärken und Talente einer Person«.
Statt von »qualitativen Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion« sprechen Gray und Attwood von »qualitativen Vorteilen in der sozialen Interaktion« und nennen Punkte wie »Beziehungen zu Altersgenossen geprägt von absoluter Loyalität und untadeliger Zuverlässigkeit«, »drückt eigene Gedanken ungeachtet des sozialen Zusammenhangs aus oder hält an persönlichen Überzeugungen fest« oder »hört ohne ständiges Urteilen oder Unterstellungen zu«.
Durch diese neue Perspektive hoffen Gray und Attwood die Reaktionen anderer auf Aspies zu verändern. Als hilfreiche, überdachte Reaktionen nennen sie den Fokus auf das Potential der Person statt auf die Schwächen, sinnvolle Bestätigung sowie Entgegenkommen und Akzeptanz statt Arroganz. Auch Tony Attwoods bekannte Bücher zum Asperger-Syndrom sind durch diese positive Herangehensweise geprägt und werden dafür sehr geschätzt.
Das Autismus-Spektrum
Heute wird der Begriff »Asperger-Syndrom« zunehmend kritisiert, weil er den Eindruck erweckt, als gäbe es eine scharfe Trennung zwischen »Autismus« und dem »Asperger-Syndrom«. Das Verständnis von Autismus ist heute ein anderes als in den 80er Jahren, und es wird zunehmend vom »Autismus-Spektrum« gesprochen.
Menschen im Autismus-Spektrum bemängeln, dass die Auftrennung in Autismus und Asperger wenig mit ihren Lebensrealitäten zu tun hat und dass die Trennung sowohl Einzelpersonen als auch der Community als Ganzes schade. Auch Autismus-Forscher sehen immer mehr die Gemeinsamkeiten, die fließenden Übergänge und die sehr individuellen Lebensläufe, Stärken und Schwächen autistischer Personen.
In der neuen Auflage des DSM wurden die Diagnosen für Asperger-Syndrom, frühkindlichen Autismus und atypischen Autismus gestrichen und ersetzt durch die »Autismus-Spektrum-Störung». Autismus wird weiterhin den »Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« zugeordnet.
Viele Autisten, die sich gegen Pathologisierung wehren, lehnen das Konzept »Störung« ab und sprechen statt dessen von »neurologischen Unterschieden« und »neurologischer Vielfalt«.
Fußnoten
- ? Asperger, H.: Die „Autistischen Psychopathen“ im Kindesalter. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1944, 7. Online verfügbar bei neurodiversity.com.
- ? Wing, L., Gould, J. (1979). Severe impairments of social interaction aud associated abnormalities in children: Epidemiology and classification. Journal of Autism and Childhood Schizophrenia, 9, 11-29.
- ? Wing, L. (1981). Asperger’s syndrome: A clinical account. Psychological Medicine, 11, 115-130. Auch online verfügbar.
- ? Entwurf für DSM-V, 299.0 Autistic Disorder.
- Foto von Hans Asperger: Wikimedia Commons
- Abbildung von Lorna Wings Triad of Impairments: Rechte bei Autismus-Kultur, Weiterverwendung mit Link auf Autismus-Kultur gestattet.
Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus