Autistisch gut leben.

Viele Menschen stoßen erst spät im Leben auf das Thema: Weil sie sich irgendwie anders fühlen. Weil soziale Situationen anstrengend sind. Weil sie sich nicht erklären können, warum andere sie als „sonderbar“, „kühl“ oder „schwierig“ empfinden. Oder weil sie mit einer psychischen Diagnose nicht weiterkommen, und beim Recherchieren auf das Asperger-Syndrom stoßen.

Gerade bei Erwachsenen ist das Bild oft uneindeutig. Die meisten sind nicht mit einer Diagnose aufgewachsen. Sie haben gelernt, sich durchzuschlagen, mit viel Maskieren, Anstrengung und innerer Verwirrung. Und viele wissen bis heute nicht, dass ihre Art zu fühlen, denken und kommunizieren einen Namen hat:

Autismus-Spektrum-Störung, früher: Asperger-Syndrom.

In diesem Artikel erfährst du:

  • woran man Asperger bei Erwachsenen erkennen kann
  • was es bedeutet, „im Spektrum“ zu sein
  • wie sich Autismus von ADHS, Hochsensibilität, Trauma oder Persönlichkeitsstörungen unterscheidet
  • warum viele erst spät im Leben auf die Idee kommen, dass es das sein könnte
  • was eine Diagnose (oder Selbstdiagnose) verändern kann

Du musst nicht alle typischen Merkmale erfüllen. Und du musst dich auch nicht in eine Schublade pressen. Aber vielleicht findest du hier Hinweise, die dir helfen, dich selbst besser zu verstehen.

Am Ende findest du einen Link zu einen Selbsttest – als ersten Schritt zur Orientierung.

Symptome des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter

Wenn du das hier liest, willst du wahrscheinlich wissen, woran man Asperger bei Erwachsenen erkennen kann. Hier findest du typische Merkmale, mit Beispielen und ohne Fachchinesisch.

Wichtig: Nicht alle Merkmale treffen auf jede Person zu. Und dieser Artikel ersetzt keine Diagnose.

Gespräche und soziale Situationen: warum das oft schwierig ist

„Für das übliche Hin und Her eines Gespräches hatte ich kein Gefühl. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn ich gleich hätte sagen dürfen, was ich zu sagen hatte … Das war schwierig und ermüdend.“

Gunilla Gerland

Viele von uns tun sich schwer mit dem, was andere „normale Kommunikation“ nennen:

  • Wir haben Schwierigkeiten, Sprache im sozialen Kontext zu verstehen oder passend zu nutzen. Anspielungen, Ironie oder doppeldeutige Aussagen verwirren uns oft.
  • Wir finden Smalltalk kompliziert.
  • Es kommt immer wieder zu Missverständnissen, auch, wenn wir uns Mühe geben.
  • Nonverbale Hinweise wie Gesichtsausdruck, Gestik oder Tonfall deuten wir oft falsch oder gar nicht. Vielleicht erkennen wir offensichtliche Emotionen, aber nicht die subtilen Zwischentöne.
  • Wir tun uns schwer damit, Gedanken, Absichten oder Gefühle anderer zu „lesen“. Dadurch wirken wir manchmal kühl, abweisend oder egoistisch, obwohl wir gar nicht merken, was gerade im Raum steht.

„Wie soll ich auf Gefühle reagieren, die ich nicht erkenne? Und übrigens: Nicht-autistische Menschen verstehen unsere Gefühlslage ja auch oft nicht.“

  • Blickkontakt ist für viele von uns eher störend als hilfreich. Er lenkt ab oder fühlt sich unangenehm an. Wir erkennen oft nicht, was das Gegenüber uns über den Blick mitteilen will, oder senden selbst keine typischen Signale.
  • Soziale Regeln müssen wir oft bewusst lernen. Was für andere selbstverständlich ist, müssen wir uns wie Vokabeln aneignen.
  • Soziale Situationen kosten Energie. Gespräche, Gruppenarbeit oder lockeres Zusammensitzen sind anstrengend, nicht entspannend.

„Ich weiß jetzt, dass es für mich völlig normal ist, Menschen nicht anzusehen, wenn ich mit ihnen spreche. Ich verstehe wirklich nicht, warum es als normal gilt, jemandes Augäpfel anzustarren.“
John Elder Robison

Interessen, Routinen und der Umgang mit Veränderung

  • Viele von uns haben Spezialinteressen – Themen, in die wir tief eintauchen und mit denen wir uns intensiv beschäftigen. Diese Interessen können über Jahre bleiben oder sich irgendwann ändern.
  • Wir sehen oft zuerst die Details, das große Ganze kommt später. Das kann in manchen Berufen ein Vorteil sein, aber im Alltag auch anstrengend.
  • Spontane Veränderungen sind schwierig. Wenn Abläufe anders laufen als geplant, geraten wir leicht in Stress.
  • Routinen geben uns Sicherheit. Wenn sie gestört werden, kann das uns völlig aus dem Takt bringen.

Wahrnehmung: Reize, die andere nicht mal bemerken

Unser Gehirn verarbeitet Reize anders. Das ist von Person zu Person verschieden, aber hier ein paar typische Erfahrungen:

  • Geräusche, Licht, Gerüche oder Berührungen können extrem intensiv oder kaum wahrnehmbar sein. Ein Parfüm kann zum Beispiel unerträglich sein, während man den eigenen Körpergeruch gar nicht merkt.
  • In lauten oder unübersichtlichen Umgebungen (Supermarkt, Schule, Büro) fühlen wir uns schnell überfordert oder überreizt.
  • Bestimmte Reize, die andere gar nicht stören, bringen uns völlig aus dem Gleichgewicht.

„Während sich die meisten Menschen in wenigen Minuten an neue Kleidung gewöhnen, brauche ich dafür drei oder vier Tage.“
Temple Grandin

Körpergefühl, Motorik und Stimme

Viele Erwachsene mit Asperger-Syndrom haben Schwierigkeiten mit der Körperwahrnehmung, was sich auf Bewegungen, Haltung und Feinmotorik auswirken kann:

  • Wir stoßen uns an Möbeln oder Menschen, ohne es zu merken.
  • Unsere Haltung kann steif oder ungewöhnlich wirken, ohne dass wir es mitbekommen.
  • Handschrift ist oft krakelig, feine Bewegungen (z. B. Basteln, Schneiden, Handarbeit) sind mühsam.
  • Viele sind im Sportunterricht aufgefallen – leider meistens negativ. (Obwohl es auch autistische Menschen gibt, die »ihre Sportart« gefunden haben und darin gut sind.)
  • Auch Sprache und Stimme können sich ungewohnt anhören: monotone Sprechweise, wechselnde Stimmlagen oder merkwürdige Betonung.

„Wenn ich aufgeregt war, hörte ich mich an wie Micky Maus nach einer Dampfwalze – hoch und flach.“
Donna Williams

Was tun, wenn du dich darin wiedererkennst?

Wenn du beim Lesen das Gefühl hattest: „Das passt erschreckend gut zu mir“, dann bist du nicht allein. Vielen Erwachsenen geht es ähnlich, wenn sie zum ersten Mal über das Asperger-Syndrom (bzw. Autismus-Spektrum) lesen.

Aber was heißt das jetzt konkret?

  • Du brauchst keine offizielle Diagnose, um dich mit dem Thema zu beschäftigen oder dich selbst besser zu verstehen.
  • Eine Diagnose kann aber hilfreich sein, z. B. um Klarheit zu bekommen, bestimmte Hilfen zu beantragen oder einfach mit dir selbst anders umzugehen.
  • Es gibt Selbsttests, die erste Hinweise geben können, aber sie ersetzen keine Diagnostik. Sie können aber ein guter Einstieg sein.
  • Eine Diagnose im Erwachsenenalter ist möglich, auch wenn der Weg manchmal lang oder frustrierend sein kann. Trotzdem kann es sich lohnen.

Wenn du mehr über den Diagnoseprozess wissen willst, wie er abläuft, wo man anfangen kann und worauf man achten sollte, findest du hier den passenden Artikel:

Asperger-Diagnose im Erwachsenenalter

Was unterscheidet Asperger von ADHS, Hochsensibilität & Co?

Viele Menschen, die sich in Asperger-Merkmalen wiedererkennen, fragen sich irgendwann: „Ist es wirklich Autismus? Oder vielleicht doch ADHS? Oder Hochsensibilität? Oder einfach nur introvertiert?“
Diese Fragen sind berechtigt, denn es gibt Überschneidungen. Aber auch deutliche Unterschiede.

Hier ein kurzer Überblick, was du wissen solltest. Die ausführlicheren Artikel zu den einzelnen Themen sind in Arbeit.

Asperger und ADHS

ADHS und Autismus können sehr ähnlich wirken, oder auch gleichzeitig vorliegen.

Bei beiden gibt es zum Beispiel:

  • Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeit, Reizfilterung, Alltagsorganisation
  • soziale Unsicherheiten oder Missverständnisse
  • Überforderung in Gruppen oder lauten Umgebungen

Unterschiede:

  • Bei ADHS steht meist die Impulsivität und Ablenkbarkeit im Vordergrund. Menschen mit ADHS wirken oft sprunghaft, extrovertiert, »schnell im Kopf«.
  • Bei Asperger geht es eher um Reizvermeidung, Rückzug und Strukturbedürfnis. Der Fokus liegt oft tief, nicht breit.

Wenn du das Gefühl hast, du funktionierst „wie im Chaos“, ist ADHS wahrscheinlicher. Wenn du eher „nur in einem sehr bestimmten Rahmen“ funktionierst, spricht das eher für Autismus.

Viele Autist*innen haben auch ADHS, deshalb ist es sinnvoll, auch das abzuklären.

Asperger und Hochsensibilität

Viele Autist*innen werden zuerst für „hochsensibel“ gehalten, oder halten sich selbst dafür. Denn beides kann bedeuten:

  • empfindlich auf Geräusche, Gerüche, Licht
  • starkes Bedürfnis nach Rückzug
  • intensives emotionales Erleben

Unterschiede:
Hochsensibilität ist keine neurologische Entwicklungsbesonderheit, sondern eine Persönlichkeitsbeschreibung. Es fehlt meist die soziale und kommunikative Andersartigkeit, die für Asperger typisch ist.

Autist*innen empfinden Reize oft nicht nur intensiver, sondern können sie schlechter filtern und verarbeiten. Das kann zu Reizüberflutung, Shutdowns oder Meltdowns führen.

Wenn du dich nur bei den Sinnesreizen wiedererkennst, aber soziale Kommunikation weitgehend problemlos klappt, ist Hochsensibilität naheliegender. Wenn du auch in Gesprächen oder Gruppen häufig aneckst oder erschöpft bist: Schau dir Autismus genauer an.

Asperger und Introversion

Introvertiert sein heißt nicht: autistisch sein. Auch viele nicht-autistische Menschen meiden große Gruppen, mögen tiefe Gespräche lieber als Smalltalk, brauchen viel Zeit für sich.

Unterschiede:
Introversion ist eine Temperamentsfrage. Asperger betrifft dagegen viele Ebenen: Reizverarbeitung, soziale Wahrnehmung, Kommunikation, Motorik.

Wenn du zwar lieber allein bist, aber problemlos verstehst, wie Kommunikation „funktioniert“, und du sie auch gezielt einsetzen kannst, bist du vermutlich einfach introvertiert. Wenn du dich dagegen oft fremd fühlst im Kontakt mit anderen, und dich soziale Interaktion nicht nur anstrengt, sondern verwirrt oder überfordert, kann Autismus die Ursache sein.

Asperger und Persönlichkeitsstörungen

Manche Merkmale von Autismus im Erwachsenenalter können auf den ersten Blick auch an eine Persönlichkeitsstörung erinnern – und umgekehrt.

Der folgende Überblick will keine Diagnostik ersetzen, sondern eine erste Orientierung bieten:

Asperger vs. narzisstische Persönlichkeitsstörung

Asperger und Narzissmus sind sehr unterschiedlich, können von außen aber manchmal ähnlich aussehen. Deshalb sind Fehldiagnosen möglich – in beide Richtungen.

Wichtige Unterschiede:

  • Narzissmus dreht sich um Selbstbild, Macht, Bewunderung.
    Autismus nicht. Viele Asperger-Autist*innen sind in der Regel nicht auf Status oder Wirkung aus.
  • Narzisstisches Verhalten ist oft strategisch; wenn narzisstische Menschen z.B. andere verletzen, sind sie sich dessen bewusst. Autistisches Verhalten ist meist unbewusst; wenn Asperger-Autist*innen etwas Unpassendes sagen, zielt es nicht darauf ab, andere zu verletzen.
  • Autist*innen wollen oft dazulernen, verstehen, dazugehören, aber ihnen fehlt der Zugang. Menschen mit echtem Narzissmus sehen oft kein Problem bei sich selbst. Für sie sind alle anderen schuld.

Asperger vs. Borderline

Borderline und Autismus haben eine sehr unterschiedliche Ursache, aber manche Symptome können sich überschneiden:

  • Probleme mit Nähe und Distanz
  • intensive Reaktionen auf Stress
  • starke Reizbarkeit oder Rückzug
  • Schwierigkeiten mit emotionaler Regulation

Unterschiede:

  • Borderline ist stark von konflikthaften Beziehungsmustern, emotionalen Verletzungen und instabilen Selbstbildern geprägt.
    Bei Autismus geht es mehr um neurodivergente Wahrnehmung und Kommunikation.
  • Autist*innen haben oft eine gleichmäßige, aber untypische Emotionswahrnehmung. Borderline dagegen ist oft geprägt von starken Schwankungen zwischen Übererregung und Leere.
  • Autistisches Verhalten wirkt manchmal „kühl“; bei Borderline ist es oft „heiß“, emotional geladen, konfrontativ oder klammernd.

Wenn du z. B. oft Ablehnung erfährst, aber nie wirklich verstanden hast, warum, kann das eher für Autismus sprechen. Wenn du dagegen in Beziehungen ständig in emotionale Extreme gerätst und darunter leidest, ist Borderline wahrscheinlicher – oder zusätzlich vorhanden.

Asperger vs. schizoide Persönlichkeitsstörung

Die schizoide Persönlichkeitsstörung wird manchmal vergeben, wenn jemand wenig Kontakt sucht, emotional zurückhaltend wirkt und sich lieber mit sich selbst beschäftigt.

Unterschiede:

  • Beim Schizoiden wird angenommen, dass die Person kein Bedürfnis nach Beziehung hat.
    Bei vielen Autist*innen ist das Bedürfnis da, nur die Umsetzung ist schwierig.
  • Autistische Menschen können starke Bindungen eingehen, wenn sie sich verstanden und sicher fühlen. Das passt nicht zur klassischen Schizoiden-Diagnose.
  • Auch „sonderbares Verhalten“ oder starker Rückzug können bei Autismus vorkommen, sind dort aber anders motiviert, z.B. durch Reizüberflutung oder soziale Überforderung.

Und was ist mit Depression oder sozialer Phobie?

Viele Erwachsene mit Asperger bekommen zuerst ganz andere Diagnosen – oft Depression oder soziale Phobie.
Diese Diagnosen können stimmen, und sie können möglicherweise Folgeerscheinungen eines unerkannten Autismus sein.

Zum Beispiel:

  • Soziale Überforderung → sozialer Rückzug → sieht aus wie Depression
  • ständige Missverständnisse → soziale Vermeidung → wirkt wie soziale Phobie

Bei manchen Menschen wird nach einem belastenden Erlebnis eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, und daraufhin werden alle ihre Schwierigkeiten ausschließlich darauf zurückgeführt.

Wenn du das Gefühl hast: „Irgendwas wurde bei mir immer übersehen“, dann lohnt es sich, nochmal einen Schritt zurückzugehen und das Gesamtbild anzuschauen.

Asperger – was heißt das für mich?

Für viele Erwachsene ist die Erkenntnis, autistisch zu sein, erstmal ein Schock, aber dann oft auch eine Erleichterung. Plötzlich ergibt vieles rückblickend Sinn: Warum soziale Situationen immer so anstrengend waren. Warum man sich oft „falsch“ gefühlt hat. Warum man bei bestimmten Dingen komplett ausrastet, und bei anderen die Schultern zuckt, wenn alle um einen herum durchdrehen.

Aber was nun?

1. Es ist okay, sich Zeit zu nehmen

Die Diagnose (offiziell oder inoffiziell) verändert nichts, und gleichzeitig sehr viel. Du bist immer noch du. Aber du darfst neu hinschauen: Was brauchst du wirklich? Was überforderte dich bisher, ohne dass du es gemerkt hast? Welche Regeln, die für andere „normal“ sind, kannst du für dich vielleicht loslassen?

2. Du musst dich nicht mehr verbiegen

Viele Erwachsene mit Asperger haben ihr Leben lang versucht, sich anzupassen: ständig analysieren, wie man sich richtig verhält. Nicht auffallen. Nicht anecken. Das ist anstrengend, und auf Dauer schädlich.
Autistisch zu sein heißt nicht, sich ständig erklären zu müssen. Aber es kann helfen, für sich selbst klar zu wissen: „Ich bin nicht komisch. Ich bin autistisch. Das ist ein Unterschied.“

3. Du darfst dir das Leben leichter machen

Es ist okay, sich Routinen zu schaffen, Reize zu vermeiden, soziale Kontakte zu dosieren oder klar zu sagen: „Ich brauche jetzt Ruhe.“

Manche Dinge kannst du trainieren, aber du musst dich nicht überall „verbessern“. Es geht nicht darum, normal zu wirken. Es geht darum, gut mit dir selbst zu leben.

4. Du bist nicht allein

Es gibt viele andere Erwachsene im Spektrum, auch wenn sie oft unsichtbar bleiben. Online findest du Austausch, Blogs, Foren, Bücher, Podcasts. Und: Du darfst dir Unterstützung holen. Selbsthilfegruppen, Therapie, Einzelfallhilfe: Vieles kann helfen, wenn es gut passt.

Häufige Fragen zum Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter

Ist Asperger bei Frauen anders?

Ja, oft deutlich. Viele autistische Frauen (und auch nicht-binäre Personen) werden erst sehr spät erkannt, weil sie ihre Schwierigkeiten besser überspielen können oder gelernt haben, sich sozial anzupassen („Masking“).

Sie wirken nach außen angepasst, freundlich, empathisch, und sind trotzdem innerlich ständig überfordert. Häufig wird ihnen zuerst etwas anderes diagnostiziert (z. B. Depression, soziale Phobie oder Borderline).

Kann man „nur leicht“ betroffen sein?

Das Autismus-Spektrum ist tatsächlich ein Spektrum, und zeigt sich im Alltag sehr unterschiedlich. Manche Menschen sind stark eingeschränkt, andere führen ein scheinbar „normales“ Leben, zahlen aber innerlich einen hohen Preis.

„Leicht betroffen“ heißt nicht: „Es ist nicht schlimm.“ Es heißt nur: Die Schwierigkeiten sind nach außen weniger sichtbar. Für die betroffene Person kann der Leidensdruck trotzdem hoch sein, besonders, wenn niemand es bemerkt oder ernst nimmt.

Muss ich das jemandem sagen, z.B. im Job?

Nein. Du entscheidest selbst, wem du was sagst. Es kann entlastend sein, offen damit umzugehen, aber es kann auch Nachteile haben, besonders im Arbeitsumfeld.

Wenn du Unterstützung brauchst (z.B. Nachteilsausgleiche, Pausenräume, weniger Reizüberflutung), kann eine offizielle Diagnose hilfreich sein.

Aber auch ohne Diagnose kannst du oft Dinge so organisieren, dass sie besser für dich funktionieren. Du musst dich nicht rechtfertigen.

Wie wirkt sich Asperger auf Beziehungen aus?

Beziehungen können funktionieren – Freundschaften, Partnerschaften, Familie. Aber sie brauchen oft bewusstere Kommunikation, klare Absprachen, Rücksicht auf Reizempfindlichkeit und auf Rückzugsbedürfnisse.

Viele Autist*innen bevorzugen wenige, aber enge Kontakte. Andere wünschen sich Nähe, aber haben Schwierigkeiten, sie zu zeigen oder zuzulassen. Das ist okay, solange beide Seiten wissen, woran sie sind.

Auch hier gilt: Verstehen hilft. Sich selbst verstehen. Und anderen helfen, einen zu verstehen.

Was bringt mir überhaupt eine Diagnose so spät im Leben?

Für viele: Klarheit. Erleichterung. Selbstakzeptanz.

Eine späte Diagnose kann helfen, die Vergangenheit neu zu bewerten, Schuldgefühle loszuwerden und bessere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Sie kann auch der Startpunkt sein, um sich Unterstützung zu holen, Grenzen zu setzen, neue Wege zu gehen.

Sie ändert nicht, wer du bist – aber vielleicht, wie du mit dir umgehst.

Der erste Schritt zu mehr Klarheit

Asperger-Autist*innen, die ohne Diagnose aufgewachsen sind, haben bereits viel geleistet – oft mehr, als ihnen selbst bewusst ist. Viele haben sich jahre- oder jahrzehntelang in einer Welt durchgeschlagen, die nicht für sie gemacht ist. Sie haben Berufe ausgeübt, Familien gegründet, sich einen Platz in der Gesellschaft erkämpft – oft unter großen inneren und äußeren Belastungen.

Ihre Geschichten sind Überlebensgeschichten.

Ich wünsche mir, dass ihre Erfahrungen als Expertise anerkannt werden, und dass wir als Gesellschaft endlich anfangen, von ihnen zu lernen.

Ich hoffe, dass viele bisher undiagnostizierte Erwachsene vom Asperger-Syndrom erfahren, sich selbst besser verstehen und Wege finden, ihr Leben mit mehr Selbstrespekt, Klarheit und Leichtigkeit zu gestalten.

Und ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft erwachsene Autist*innen nicht länger übersieht. Nur weil jemand es 30, 40 oder 50 Jahre ohne Unterstützung geschafft hat, heißt das nicht, dass er oder sie keine gebraucht hätte.

Wenn du dich in diesem Text wiedererkennst, kann ein erster Schritt sein, Klarheit für dich selbst zu gewinnen.

Hier findest du einen Selbsttest: Bin ich im Autismus-Spektrum?

Du musst niemandem etwas beweisen. Aber du darfst dir selbst auf die Spur kommen.

Zuletzt bearbeitet am 19.06.2025.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater zweier fabelhafter Kinder. Mehr über Linus