Wir sind autistisch und das ist gut so.

Definition: Was ist atypischer Autismus?

Atypischer Autismus ist eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Atypische Autisten haben autistische Verhaltensweisen, sie erfüllen aber einzelne Diagnosekriterien für Frühkindlichen Autismus oder das Asperger-Syndrom nicht. Inzwischen ist atypischer Autismus Teil der Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung«.

Was ist an Atypischem Autismus „atypisch“?

Es gibt zwei Gründe, warum atypischer Autismus diagnostiziert wird:

  • Atypischer Beginn des autistischen Verhaltens: Die Symptome treten erst nach dem dritten Lebensjahr auf.
  • Atypische Symptomatik: Die Person weist nicht alle Merkmale von Autismus auf, manche Symptome fehlen – aber das Gesamtbild ist autistisch.

Autistische Autisten sind sehr unterschiedlich. Die Diagnose wird häufig gestellt, wenn Menschen mit schwerer geistiger Behinderung autistisches Verhalten zeigen. Sie kann aber auch bei Menschen mit normaler Intelligenz und autistischen Zügen gestellt werden.

Atypischer Autismus ist eben dadurch definiert, dass er ein bisschen anders ist als typische Formen von Autismus. Die Art der Abweichungen hat man bewusst weit gefasst, damit die Diagnose gestellt werden kann bei Personen, die Kriterien für typischen Autismus nicht erfüllen, die aber trotzdem klinisch relevante Beeinträchtigungen in diesem Bereich haben.

Andere Formen von Autismus sind:

In den USA wurde früher häufig die Diagnose PDD-NOS gestellt, die manchmal auch als atypischer Autismus bezeichnet wurde.

Inzwischen wurde alle Subtypen von Autismus zu einer einzigen diagnostischen Autismus-Kategorie zusammengefasst, der Autismus-Spektrum-Störung.

Atypischer Autismus: Symptome

Menschen mit atypischem Autismus weisen die typischen Symptome von Autismus auf (Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, eingeschränkte Interessen, repetitives Verhalten), aber möglicherweise nicht alle davon. Die Merkmale können unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Bei Kindern muss man die Auffälligkeiten und Besonderheiten in Relation zum für das Alter üblichen Stand der Entwicklung betrachten.

Atypischer Autismus: Symptome

Die Symptome von Atypischen Autismus können folgendes umfassen:

Sprache bei Atypischem Autismus

Die sprachlichen Fähigkeiten können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Eine Sprachverzögerung ist kein Kriterium, kommt aber häufig vor. Manche können nicht sprechen. Bei Menschen mit Atypischem Autismus und geistiger Behinderung liegt häufig auch eine rezeptive Sprachstörung (Verständnis von Sprache) vor.

Soziale Interaktion

Atypische Autisten finden wahrscheinlich den alltäglichen Kontakt mit anderen Menschen schwierig und tun sich schwer, Freundschaften zu schließen. Manche nehmen wenig Kontakt zu anderen auf oder tun dies auf ungewöhnliche Weise. Sie haben Schwierigkeiten, sich in nicht-autistische Menschen hineinzuversetzen. Die soziale und emotionale Entwicklung autistischer Menschen verläuft meist langsamer als die nicht-autistischer Menschen.

Soziale Kommunikation

Sie können nonverbale Kommunikation wahrscheinlich nicht effektiv nutzen, z. B. Blickkontakt, Mimik und Gesten. Das heißt, dass sie wenig Körpersprache verwenden und die nonverbale Kommunikation anderer nicht gut verstehen. Dasselbe gilt für paraverbale Kommunikation wie Tonfall und Satzmelodie.

Auch Atypische Autisten, die gute sprachliche Fähigkeiten haben, haben vielleicht Schwierigkeiten mit den sozialen Aspekten verbaler Kommunikation, z. B. Sarkasmus zu verstehen.

Repetitives Verhalten

Menschen mit Atypischem Autismus haben möglicherweise stereotype Verhaltensweisen wie mit den Händen wedeln oder mit dem Oberkörper vor- und zurück schaukeln.

Intensive Interessen

Zu den Besonderheiten autistischer Menschen können intensive, eng umgrenzte Interessen zählen. Die Themen können üblich oder unüblich sein, z. B. Insekten, Wetter oder Dinosaurier. Ungewöhnlich ist die Intensität, mit der Autisten ihren Interessen nachgehen.

Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung

Sie sind vielleicht besonders empfindlich (oder unempfindlich) gegenüber bestimmten Geräuschen, Gerüchen oder anderen Reizen. Dabei ist die Wahrnehmung selbst üblicherweise normal, die Abweichungen liegen in der Verarbeitung sensorischer Reize im Gehirn.

Mehr Informationen zu Autismus und Wahrnehmung.

Schwierigkeiten mit Veränderungen

Atypische Autisten tun sich möglicherweise schwer mit Änderungen im Tagesablauf oder der Umgebung.

Für die Umwelt sind diese Besonderheiten und Auffälligkeiten oft unverständlich.

Atypischer Autismus: Diagnose

Atypischer Autismus wird anhand des Verhaltens diagnostiziert. Zur Diagnostik gehört deshalb eine umfassende Abklärung der Entwicklung, Fähigkeiten und Beeinträchtigungen sowie typisch autistischer Verhaltensweisen. Dazu gehören standardisierte Tests, Beobachtung und Befragungen (der Person selbst oder der Eltern).

Atypischer Autismus - Diagnose: Kind bei Diagnostik

Die Diagnostik kann z. B. so aussehen:

Entwicklungs-Screening

Dazu gehört eine allgemeine Einschätzung, ob und wann das Kind bestimmte Meilensteine der Entwicklung erreicht hat. Die Eltern werden befragt: Wie sieht die Kommunikation und soziale Interaktion des Kindes aus? Hat es repetitive Verhaltensweisen?

Umfassende Evaluierung

Wenn das Entwicklungs-Screening zeigt, dass das Kind eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, im Autismus-Spektrum zu sein, wird eine umfassende Diagnostik durchgeführt.

Dabei kommen häufig verschiedene standardisierte Tests und Untersuchungen zum Einsatz, teilweise auch in Form einer Befragung der Eltern – zum Beispiel der ADOS-Test, der ADI-R, vielleicht auch ein IQ-Test oder einer zur Einschätzung der Sprachentwicklung. Dazu kommen Beobachtungen des Kindes in sozialen Interaktionen und beim Spielen.

Medizinische Untersuchung

Manchmal werden auch medizinische Untersuchungen durchgeführt, z. B. eine Untersuchung des Seh- oder Hörvermögens.

In manchen Fällen können genetische Untersuchungen eine Differenzialdiagnose ermöglichen, z. B. das Rett-Syndrom, oder zusätzliche Diagnosen stellen, z. B. das Fragile-X-Syndrom.

Hier findest du weitere Informationen zur Autismus-Diagnostik.

Atypischer Autismus: Kriterien nach ICD-10

Damit eine Autismus-Diagnose gestellt werden kann, muss das Kind (oder die erwachsene Person) bestimmte Diagnosekriterien aus dem ICD (International Classification of Diseases) erfüllen.

Diese Kriterien umfassen Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie repetitive Verhaltensweisen oder intensiver, eng umgrenzter Interessen.

Die Diagnosekriterien für Atypischen Autismus im ICD-10 sind weniger restriktiv als die für frühkindlichen Autismus oder das Asperger-Syndrom: Die Diagnose kann gestellt werden, wenn nicht alle Kriterien für diese Diagnosen erfüllt sind, weil manche Symptome fehlen oder die Symptomatik erst später begonnen hat.

Hier findest du die Diagnosekriterien für Atypischen Autismus nach ICD-10.

Kinder mit Down-Syndrom haben zum Beispiel überdurchschnittlich häufig autistische Verhaltensweisen, aber die Symptomatik kann untypisch sein, und sie tritt möglicherweise erst im Alter von 7-10 Jahren auf.

Menschen, die sowohl Down-Syndrom als auch autistische Züge haben, unterscheiden sich von Menschen, die nur das Down-Syndrom haben. Sie haben häufig einen deutlich höheren Unterstützungsbedarf. Die Diagnose Atypischer Autismus konnte in solchen Fällen Sinn machen, um den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu erden.

Inzwischen wurde die diagnostische Klassifikation jedoch geändert: Die aktuelle Ausgabe ICD-11 fasst alle drei Subtypen von Autismus zu einer einzigen Diagnose zusammen, der Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Die Diagnose Atypischer Autismus ist damit obsolet. Alte Diagnosen behalten ihre Gültigkeit bzw. werden in die neue Klassifikation überführt, und neue Autismus-Diagnosen werden als Autismus-Spektrum-Störung gestellt.

Co-Diagnosen

Autistische Kinder und Erwachsene können zusätzliche Diagnosen erhalten, wenn sie die Kriterien für diese ebenfalls erfüllen.

Welche Diagnosen das sind, kann sehr unterschiedlich sein. Die Liste reicht von anderen neurologisch bedingten Behinderungen wie geistiger Behinderung, Fragile-X-Syndrom oder ADHS bis zu psychischen Störungen wie Angst- und Zwangsstörungen oder Depressionen.

Hier findest du weitere Informationen zu Co-Diagnosen.

Test

Ein Online-Test ersetzt keine Diagnose, aber er kann eine Einschätzung geben, ob eine Autismus-Diagnose wahrscheinlich ist. Hier findest du den Autismus-Selbsttest online.

Atypischer Autismus: Therapie

Therapien können autistischen Menschen helfen, mit bestimmten Herausforderungen in ihrem Leben zurechtzukommen. Dazu gehören unter anderem der TEACCH-Ansatz, Soziales Kompetenztraining, Ergotherapie, Logopädie und Psychotherapie. Die Therapie muss an die individuellen Bedürfnisse und Ziele der Person angepasst werden.

Therapien können zum Beispiel hilfreich sein, um soziale Kompetenzen zu entwickeln, mit sensorischen Problemen umzugehen, mögliche zusätzliche Diagnosen psychischer Störungen (z. B. Angststörungen und Depression) zu behandeln, exekutive Funktionen zu verbessern und selbständiger leben zu können, oder neue Möglichkeiten zu finden, mit Gefühlen oder überfordernden Situationen umzugehen.

Es gibt keine Autismustherapie, die aus autistischen Menschen nicht-autistische macht, und das sollte man auch nie versuchen. Aber Therapie kann ein wertvolles Werkzeug für autistische Menschen sein, um ihre Lebensqualität zu erhöhen und ihr Potenzial zu erreichen.

Atypischer Autismus: Therapie. Kind und Therapeut

Atypischer Autismus: Prognose

Die Prognose für Menschen mit atypischem Autismus ist sehr unterschiedlich. Faktoren sind die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten, der Grad der Beeinträchtigungen und das Maß an geeigneter Unterstützung. Manche Menschen brauchen ihr ganzes Leben lang umfassende Unterstützung, andere führen ein selbständiges Leben.

Atypischer Autismus: Ursachen

Atypischer Autismus hat hauptsächlich genetische Ursachen. Es gibt sehr viele Gene, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Außerdem werden mehrere Umweltfaktoren diskutiert, die in Verbindung mit bestimmten genetischen Voraussetzungen Autismus auslösen können; bewiesen ist jedoch keiner davon.

Es gibt also kein einziges Autismus-Gen. Autismus bei verschiedenen Menschen kann unterschiedliche genetische Ursachen haben, und das erklärt auch, warum Autisten so verschieden sind.

Man kann annehmen, dass manche dieser Genvarianten mit Intelligenzminderung und Sprachverzögerung einhergehen, und andere nicht.

Manche Autisten haben eine Behinderung, deren genetischer Hintergrund bekannt ist, und die häufig mit autistischen Zügen einhergeht, z. B. das Fragile-X-Syndrom. In den meisten Fällen ist aber nicht bekannt, welche Gene die Person autistisch machen.

Hier findest du weitere Informationen zu den Ursachen von Autismus.

Atypischer Autismus: Häufigkeit

Das US-amerikanische CDC gibt die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) mit 2,3 % an – dafür findet regelmäßig ein Screening achtjähriger Kinder statt.

Als Autismus-Spektrum-Störungen noch in Subtypen unterteilt wurden, wurden davon ganze 75 % der Diagnose PDD-NOS zugerechnet. PDD-NOS (Pervasive Developmental Disorder – Not Otherwise Specified) war eine Diagnose im DSM-4, die oft gestellt wurde, wenn Kinder die Kriterien für eine andere Autismus-Diagnose nicht ganz erfüllten, aber ähnliche Probleme hatten.

Deshalb galt PDD-NOS in den USA oft als leichte Form von Autismus. Die Diagnose atypischer Autismus wurde in den USA nicht verwendet; der Begriff »atypical autism« wird manchmal als Synonym für PDD-NOS verwendet.

In Deutschland werden Zahlen zur Prävalenz seltener und mit einer anderen Methodik erhoben. In einer Studie wird die Prävalenz von Autismus in Deutschland bei 6- bis 12-jährigen Kindern mit 0,6 % angegeben – gezählt wurden dabei nur Kinder, bei denen im jeweiligen Jahr eine Autismus-Diagnose kodiert wurde (z. B. als Erstdiagnose, für eine Therapie o.a.). In der gesamten Gruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 0 bis 24 Jahren waren es 0,38 %.

Der Anteil der einzelnen Subtypen war folgendermaßen:

ICD-CodeWeiblichMännlichGesamt
F84.030,1 %40,1 %37,5 %
F84.18,1 %10,2 %9,6 %
F84.57,0 %15,7 %13,5 %
F84.816,3 %10,4 %11,9 %
F84.938,4 %23,7 %27,5 %
F84.0 = Frühkindlicher Autismus, F84.1 = Atypischer Autismus, F84.5 = Asperger-Syndrom, F84.8 = Sonstige tief greifende Entwicklungsstörungen, F84.9 = Tief greifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet (Quelle: Bachmann, C., & Hoffmann, F. (2016). Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland)

Atypischer Autismus macht hier weniger als 10 % der Autismus-Diagnosen aus.

Die unspezifischen Diagnosen F84.8 und F84.9, die am ehesten den PDD-NOS-Diagnosen in den USA entsprechen, machen zusammen fast 40 % aus, bei Mädchen und Frauen sogar noch deutlich mehr.

Schon seit Jahren gibt es Hinweise, dass Autismus sich bei Mädchen und Frauen anders äußert und die Diagnosekriterien dem nicht gerecht werden. Auch diese Zahlen kann man so interpretieren.

Atypischer Autismus: Fragen und Antworten

Ist atypischer Autismus eine Behinderung?

Atypischer Autismus ist eine Behinderung entsprechend dem Sozialgesetzbuch, wie andere Formen von Autismus auch. Autisten dürfen wegen ihrer Behinderung nicht benachteiligt werden, weshalb ihnen Leistungen z. B. zur Integration in Schule und Beruf sowie zur Förderung und Unterstützung im Alltag zustehen können.

Wie verhalten sich atypische Autisten?

Das Verhalten atypischer Autisten ist im Gesamtbild autistisch, bestimmte Merkmale können fehlen. Atypischer Autismus wird oft bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung diagnostiziert, bei denen es oft schwer einzuschätzen ist, ob die sozialen Schwierigkeiten durch die geistige Behinderung verursacht werden.

Möglicherweise fehlen komplexe Verhaltensweisen, sodass diese nicht bewertet werden können. Dadurch kann es sein, dass bestimmte Autismus-Kriterien nicht erfüllt werden.

Welcher Pflegegrad bei atypischen Autismus?

Bei Menschen mit Atypischem Autismus kann eine Pflegebedürftigkeit festgestellt werden.

Um den individuellen Pflegegrad bei Atypischem Autismus festzustellen, werden verschiedene Lebensbereiche überprüft. Dazu gehören kommunikative und kognitive Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Einschränkungen der Selbstversorgung und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.

Die Einstufung eines Pflegegrads ist immer individuell und nicht direkt an die Diagnose gebunden. Dabei werden Aspekte berücksichtigt, an die man im Zusammenhang mit dem Pflegegrad nicht unmittelbar denkt, z. B. stereotype, sich wiederholende Bewegungen.

Quellen und Studien

Zuletzt bearbeitet am 29.04.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus