Wir sind autistisch und das ist gut so.

Das Asperger-Syndrom ist erst seit 1990 bzw. 1994 in die Diagnose-Handbücher ICD und DSM aufgenommen worden. Erst seit der Jahrtausendwende wird die Diagnose allmählich bekannter – allerdings vor allem bei Kinder- und Jugendpsychologen.

Viele psychologische und psychiatrische Fachkräfte für Erwachsene haben bestenfalls vom Asperger-Syndrom gehört, sind aber nicht in der Lage, es sicher zu diagnostizieren.
Die meisten Erwachsene stoßen zuerst selbst auf das Asperger-Syndrom, z.B. im Internet, erkennen sich in Beschreibungen wieder und machen sich dann auf die Suche nach einer Person, die die Diagnose stellen kann. Manchmal kommt es auch vor, dass jemand Unterstützung sucht wegen anderer Probleme wie z.B. AD(H)S oder Depressionen und im Laufe dessen die Diagnose Asperger-Syndrom bekommt. Viele bekommen andere (eventuell falsche) Diagnosen oder gar keine.
Das Asperger-Syndrom zu diagnostizieren, ist nicht einfach, gerade bei Erwachsenen. Es kann viele Gründe geben, warum jemand Charakteristika des Asperger-Syndroms aufweist.
Viele andere menschliche Unterschiede teilen Merkmale von Autismus, haben aber teilweise ganz andere Ursachen. Das führt manchmal zu Fehldiagnosen. Dann bekommt man vielleicht Hilfen oder Therapien, die man gar nicht braucht, und die Hilfe, die man brauchen würde und auch haben könnte, bekommt man nicht.

Autismus-Diagnose: Wozu?

Patricia E. Clark sagte über die Autismus/Asperger-Diagnose im Erwachsenenalter:

Sie ist enorm nützlich. Wenn nichts anderes, so rechtfertigt sie doch zumindest die lebenslangen Anstrengungen, dem gerecht zu werden, was jeder von ihnen verlangte/erwartete und sie nicht erfüllen konnten/wollten. Es ist solch eine Erleichterung zu wissen, dass du kein schlechter Mensch bist, weil du du selbst bist.

Die Autorin Liane Holliday Willey dagegen sieht für sich keinen Nutzen in einer ärztlichen Asperger-Diagnose:

Bis heute bin ich auf AS nie formal getestet worden. Bis heute hab ich niemanden in der Gegend, in der ich lebe, gefunden, der Erwachsene auf das Asperger-Syndrom hin evaluieren kann. Aber das ist auch ganz in Ordnung so. Ich brauche eigentlich keine Diagnose, um mir zu bestätigen, was ich schon weiß. Was ich benötige, das ist ein größeres Wissen darüber, wie ich meiner Tochter weiterhelfen kann, das sind Informationen darüber, wie ich mich selbst weiterentwickeln kann und wie ich der Öffentlichkeit dabei helfen kann, das Asperger-Syndrom zu verstehen.

Autismus-Diagnose: Pro & Kontra

Wenn Du vom Asperger-Syndrom gehört hast und denkst, dass es vielleicht auf Dich zutreffen könnte, dann überlegst Du wahrscheinlich, ob Du eine offizielle Asperger-Diagnose bzw. eine diagnostische Abklärung des Asperger-Syndroms haben willst oder nicht. Es gibt Gründe dafür und dagegen.
Pro:

  • Vielleicht geht es Dir besser, wenn Dir ein »Unparteiischer« sagt, dass Deine Probleme nicht Deine Schuld sind und nichts mit Faulheit, fehlendem Willen oder Dummheit zu tun haben.
  • Manchen Menschen hilft eine Diagnose, sich selbst und andere besser zu verstehen.
  • Die Diagnose bietet Dir Begriffe und Zusammenhänge, um anderen deine Stärken und Schwächen zu erklären.
  • Wenn Du Dich immer so gefühlt hast, als würdest Du nirgends hingehören, kann eine Diagnose dir vielleicht helfen, Dich zugehörig zu fühlen.
  • Eine Diagnose ist eine große Hilfe, wenn es darum geht, Unterstützung oder einen Nachteilsausgleich zu beantragen.
  • Wenn Du Dich bereits in Therapie befindest, aber das Gefühl hast, dass diese Therapie an deinen Problemen vorbeigeht, ist es sinnvoll, Asperger diagnostisch abklären zu lassen. Vielleicht hast Du eine Diagnose auf Sozialphobie oder Depression, was eine falsche oder auch eine richtige Diagnose sein kann – aber ohne das Wissen um das Asperger-Syndrom ist es unwahrscheinlich, dass die zugrunde liegenden Schwierigkeiten erkannt werden. Womöglich reden Du und die therapeutische Fachkraft an einander vorbei. Das Wissen um das Asperger-Syndrom sollte zu einem besseren Verständnis von spezifischen Stärken und Schwächen führen, die in der Therapie berücksichtigt werden müssen.
  • Vielleicht beschäftigt Dich die Frage »Bin ich Aspie oder doch nicht?« sehr und Du überlegst ständig, ob das, was Du gerade machst, zum Asperger-Syndrom »passt« oder nicht. In diesem Fall kann eine Asperger-Diagnose durch eine Fachperson helfen, von diesen Überlegungen weiterzugehen zu solchen, wie Du Dein Leben gestalten möchtest, und was Du brauchst, damit es Dir gut geht.
  • Einige Menschen werden Deine Schwierigkeiten nur ernst nehmen, wenn Du eine Diagnose hast.
  • Wenn man älter wird, wird es tendenziell schwieriger, die Diagnose zu bekommen. Das kann ein Grund für junge Erwachsene sein, die Diagnose abklären zu lassen. Es ist allerdings zu hoffen, dass sich diese Situation in den nächsten Jahren ändert.

Kontra:

  • Vielleicht genügt Dir die Selbsterkenntnis, Aspie zu sein.
  • Vielleicht gefällt Dir die Vorstellung nicht, zu einer Fachperson zu gehen und von ihr »beurteilt« zu werden.
  • Die meisten Menschen in der autistischen Community akzeptieren Dich als Teil der Community auf Basis Deiner Selbstdiagnose.
  • Vielleicht brauchst Du keine Form der Unterstützung, für die Du eine Diagnose vorzeigen müsstest.
  • Eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum (oder eine andere psychiatrische Diagnose, die möglicherweise gegen Deinen Willen gestellt wird), kann in bestimmten Situationen Nachteile haben, z.B. bei einer Verbeamtung, beim Abschluss von Versicherungen oder bei spezifischen Berufswünschen wie z.B. Pilot.

Was bedeutet es für Dich, Deinen Verdacht auf Asperger-Syndrom diagnostisch abklären zu lassen? Was bedeutet es für Dich, falls Du wider Erwarten keine Diagnose auf Asperger-Syndrom bekommst?
Darüber solltest Du dir Gedanken machen und die Fachperson, an die du Dich wendest, sollte Dich in diesen Fragen beraten können, damit Du Dich für oder gegen eine diagnostische Abklärung entscheiden kannst. Ob Du eine diagnostische Abklärung oder eine Therapie willst oder nicht, ist allein Deine Entscheidung.

Asperger-Diagnose: Wo?

Die Asperger-Diagnose kann von ärztlichen oder psychologischen Fachkräften gestellt werden. Kinder- und Jugend-Psychologen bieten Diagnose und Therapie nur für Kinder und Jugendliche bis zu einer Altersgrenze von (variierend) 18 bis 25 Jahren an.
Wichtig ist, dass die Person sich mit dem Asperger-Syndrom und insbesondere der Asperger-Diagnose auskennt.
Die Autismus-Therapiezentren kennen sich prinzipiell mit Autismus aus, haben aber unterschiedlich viel Erfahrung mit dem Teil des Spektrums, der Asperger-Syndrom bzw. High-Functioning-Autismus genannt wird. Außerdem konzentrieren sich viele von ihnen auf Kinder und Jugendliche und sind sich möglicherweise unsicher, wenn es darum geht, bei Erwachsenen eine Diagnose zu stellen. Beides ändert sich allmählich. Die einzelnen Autismus-Therapiezentren unterscheiden sich in diesen Punkten stark, weshalb Du Dich am besten vor Ort erkundigst.
Ebenfalls fragen sollte man nach der Kostenübernahme: Normalerweise zahlt die Krankenkasse die diagnostische Abklärung, bei manchen Autismus-Therapiezentren muss sie (nach Erfahrungsberichten) privat bezahlt werden. Das hängt von der Zulassung der Fachkraft ab.
Die Fachperson, die die diagnostische Abklärung durchführt, braucht umfassende Kenntnisse über das Asperger-Syndrom und Erfahrungen mit Menschen mit Asperger-Syndrom, aber auch anderen Diagnosen.
Sie sollte in der Lage sein, das Asperger-Syndrom von sozialer Phobie und anderen Angststörungen, Zwängen, Depressionen und anderem zu unterscheiden – und zu erkennen, ob vielleicht mehrere Diagnosen zutreffen. Viele Aspies bekommen z.B. zusätzlich eine AD(H)S-Diagnose, und auch Depressionen sind nicht selten.

Erste Kontaktaufnahme

Wenn Du mit einer ärztlichen oder psychologischen Fachkraft Kontakt aufnimmst, solltest Du ihr mitteilen, dass Du es für möglich hältst, dass Du Asperger-Syndrom hast und dies diagnostisch abklären lassen möchtest. Viele Fachkräfte mit dem Schwerpunkt Asperger-Syndrom sind überlaufen und machen deshalb nur noch oder vorrangig Asperger-Diagnostik.
Mögliche Fragen:
Manchmal weiß man sehr wenig über die Fachkraft, die man kontaktiert. Man kann beim ersten Kontakt via Telefon oder E-Mail z.B. folgende Dinge erfragen, wenn man nicht weiß:

  • Macht sie diagnostische Abklärungen auf das Asperger-Syndrom?
  • Hat sie Erfahrungen mit dem Asperger-Syndrom? Hat sie schon Erwachsene mit Asperger-Syndrom gesehen?
  • Hat sie eine Kassenzulassung? Rechnet sie die Diagnostik mit der Kasse ab? (Manche Fachkräfte nehmen nur Privatpatienten.)
  • Kennt sie sich auch AD(H)S (oder anderem) aus? Wenn Du Dich fragst, ob eine andere Diagnose vielleicht ebenfalls zutreffen könnte (oder eine alternative Erklärung für Deine Probleme sein könnte, die Du abgeklärt haben möchtest), kannst Du auch danach fragen.

Vielleicht wird die Fachkraft noch etwas von dir wissen wollen. Es wird aber am Telefon im Allgemeinen nicht erwartet, dass Du näher erklärst, warum Du denkst, dass das Asperger-Syndrom auf Dich zutrifft.
Wenn die Fragen zu beiderseitiger Zufriedenheit geklärt sind, könnt ihr einen Termin vereinbaren. Es kann dabei Wartezeiten von mehreren Wochen oder sogar Monaten geben.

Die Asperger-Diagnose: Der Ablauf

Der wesentliche Teil der Diagnostik ist eine Befragung der betreffenden Person bzw. bei Kindern der Eltern oder eines Elternteils. Auch bei Erwachsenen befragen Fachkräfte gern die Eltern, wenn das möglich ist. Notwendig für eine Diagnose ist das aber nicht – in manchen Fällen sind die Eltern ja schon gestorben oder sollen nicht unbedingt von der Diagnose erfahren.
Vielleicht findest du es einfacher, Deine Gedanken aufzuschreiben und sie der Diagnostikerin oder dem Diagnostiker schriftlich zu geben bzw. neben persönlichen Gesprächen auch per eMail zu kommunizieren. Gute Aspie-Fachkräfte werden damit einverstanden sein, dass Du auf Fragen später und, wenn Du willst, schriftlich antwortest.
Das Asperger-Syndrom ist neurologisch bedingt; es gibt aber keinen neurologischen Test, um Asperger festzustellen. Manchmal werden neurologische Untersuchungen gemacht, um andere Ursachen auszuschließen.
Manchmal nimmt die Fachperson Fragebögen oder Tests zu Hilfe, die nette Kürzel wie AQ, ADOS, ASAS o.ä. tragen. Es gibt auch Tests auf Wahrnehmungsstörungen – auch das kann sinnvoll sein. Bei Kindern wird gern ein IQ-Test gemacht, nicht nur, um den Gesamt-IQ zu bestimmen, sondern auch um zu überprüfen, ob die Punktzahlen, die bei den einzelnen Aufgaben erreicht wurden, stark voneinander abweichen. Da IQ-Tests auf NT-Hirne genormt wurden, ist ein »unebenes« IQ-Profil ein Hinweis auf das Asperger-Syndrom.
Bei einer umfassenden Diagnostik sollten nicht nur die Autismus-Diagnosekriterien abgefragt werden, sondern auch z.B. ADHS und Wahrnehmungsstörungen abgeklärt werden – nicht, damit man noch mehr Diagnosen hat, sondern um festzustellen, ob man in diesen Bereichen Schwierigkeiten hat.
Hier findest du weitere Informationen zur Diagnostik.

Asperger-Diagnose: und dann?

Die Selbsterkenntnis, Aspie zu sein bzw. die Asperger-Diagnose bedeutet eine Zeit der Neuorientierung und kann eine gewaltige Wirkung auf dein Leben haben. Bisher gibt es wenig Unterstützung dabei, mit der Diagnose umzugehen.
Im Idealfall sollte die Diagnose Dir helfen, Deine Stärken und Schwächen zu verstehen. Vielleicht fängst Du jetzt an, Dich selbst oder andere Menschen besser zu verstehen. Vielleicht erschrickt Dich die Asperger-Diagnose dann doch. Die Fachperson sollte Dich unterstützen können, und zwar sowohl emotional und psychologisch als auch bei der Frage, was Du jetzt mit diesem Wissen anfängst. Gibt es bestimmte Fähigkeiten, die Du lernen möchtest? Auf welche Art könntest Du sie lernen und welche Unterstützung möchtest Du dabei nutzen? Brauchst du bestimmte Formen der Unterstützung in deinem Alltag? In der Schule, im Studium oder Beruf?

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus