Heime abschaffen!
Die Assistenz, die Leute bekommen, nimmt viele Formen an. Alle Leute bekommen eine Menge Unterstützung in ihrem täglichen Leben. Einige dieser Leute sind sich völlig darüber im Klaren, dass Menschen eine voneinander abhängige Spezies sind und dass sie selbst Begünstigte davon sind, und andere klammern sich an die Illusion, dass sie unabhängig wären. Einige Leute bekommen eine Art und Menge an Assistenz, die in ihrer Kultur ungewöhnlich ist. Wenn sie reich sind oder einer königlichen Familie angehören, mag das den Erwartungen entsprechen. Wenn sie genau dieselbe Art von Assistenz erhalten, weil sie behindert sind, wird es vielleicht als besonders und belastend gesehen.
—Ballastexistenz
Inhaltsverzeichnis
Heime abschaffen!
Ein besonderes Problem für alle Beteiligten ist der Übergang autistischer Menschen aus der elterlichen Obhut in ein anderes Betreuungssystem oder in die Selbständigkeit. Nur relativ wenige autistische Menschen können selbständig oder allein mit ambulanter Betreuung leben. Rund 75% leben nicht mehr in ihrer Familie, sondern in verschiedenen Einrichtungen. Sie werden dort meist in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter untergebracht. Erwachsene autistische Menschen leben, wenn nicht bei den Eltern, in Heimen für Geistigbehinderte, in sozialtherapeutischen Wohngemeinschaften oder sozialtherapeutisch bzw. anthroposophisch orientierten Dorfgemeinschaften. Die Tragfähigkeit dieser Einrichtungen ist sehr unterschiedlich.
schreibt Autismus Deutschland und empfiehlt:
- Da nur wenige autistische Menschen so selbständig werden, dass sie allein leben können, sind Wohngemeinschaften und Heime für sie zu schaffen. Dies ist besonders dringlich wegen der großen Diskrepanz zwischen der Zahl autistischer Erwachsener und der speziell für sie eingerichteten Wohnmöglichkeiten. Betreute Wohngemeinschaften oder -gruppen bieten gute Voraussetzungen für eine Integration in die Nachbarschaft. Die Gründung solcher Gemeinschaften sollte dringend gefördert werden.
- Autistische Erwachsene sollten vorzugsweise von solchen Einrichtungen (z.B. Heimen oder Wohngemeinschaften) aufgenommen werden, die speziell mit der Autismusproblematik vertraut sind bzw. die Voraussetzungen für eine angemessene, langfristige Versorgung erbringen.
- Heime bieten die besten Chancen für eine Integration, wenn sie möglichst klein sind und personelle Kontinuität gewährleisten. Notwendig sind auch qualifiziertes und ausreichendes Personal, Supervision und Möglichkeiten der Krisenintervention. Auch das selbständige Wohnen Einzelner sollte durch begleitende Hilfen ermöglicht werden.
Autistische Menschen gehören also in Heime oder in Obhut anderer Betreuungseinrichtungen, Alternativen dazu gibt es scheinbar nicht. Und manche Aspies glauben, dass einige (natürlich andere!) Autist_innen in Heime gehören, und halten es für „hirnlos“ und „radikal“, Heime abschaffen zu wollen.
Ich bin Huw Ross. Ich kann nicht gut sprechen, weil ich Autismus habe. Bitte hören Sie gut zu. Ich vertrete People First Deutschland. Vor allem die Menschen, die viel Hilfe brauchen wie ich. Leute, die nicht sprechen können oder die sich nicht bewegen können. Diese Leute sieht man kaum auf der Straße, weil sie oft zusammen in großen Heimen wohnen. Dadurch, dass sie nicht gesehen werden, denken die meisten Leute, dass ein Heim der richtige und natürliche Platz für sie ist. People First sieht das anders. Das Gesetz auch. Menschen, die nicht in einem Heim leben wollen, müssen allein leben dürfen. Auch wenn sie mehr Hilfe brauchen. Auch das steht im Gesetz.
Niemand will im Heim leben.
Wohlfahrtsorganisationen betonen regelmäßig, dass behinderte Menschen ihre Unterbringung im Heim nicht nur brauchen, sondern auch wünschen –
und alles, was eine Wohlfahrtsorganisation sagt, wird in der Öffentlichkeit weit fragloser hingenommen, als beispielsweise die gleiche Aussage von Seiten einer Regierungsstelle. Hat man zum Beispiel die Wahl zwischen einer unsicheren, nicht geförderten, sich verschlechternden und unbefriedigenden Situation zu Hause und einer sicheren, etablierten und beständigen Einrichtung wen wundert es, daß man in seiner Verzweiflung die letztere wählt? Daß Wohlfahrtseinrichtungen dann sagen, dies sei ein Beweis für den Wert der Institutionen ist eine äußerst fehlgeleitete Interpretation, gegen die sich behinderte Menschen erbittert wenden, wenn sie dazu verwendet wird, weitere Unterstützung der Öffentlichkeit zu erhalten, die sich leicht irreführen läßt.
VIF, Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten
Heimleitungen scheinen das durchaus zu erkennen – richten sich ihre Webangebote und Broschüren doch an Eltern, Betreuer_innen und sonstige Angehörige – und nicht an Menschen, die dort untergebracht werden sollen. Ein Beispiel:
Für die meisten Eltern stellt sich spätesten beim Eintritt ihres autistischen Kindes in das Erwachsenenalter die bange Frage: „Wo kann mein Kind seiner Behinderung entsprechend leben? Wo finden wir Menschen, die mit seinen häufig auftretenden Ängsten, Zwängen, Stereotypien und Aggressionen umgehen können?“ Denn was die Eltern jahrelang mühevoll versuchten, nämlich ihrem autistischen Kind angemessene Lebensbedingungen zu schaffen, überfordert Heime und Werkstätten, wenn sie nicht konzeptionell auf die speziellen Probleme der Autismussymptomatik eingestellt sind. So bleiben vielen Eltern, die einen Heimplatz für ihr schwer gestörtes Kind suchen, mit großer Wahrscheinlichkeit die Türen verschlossen, wenn sie wahrheitsgemäß das Ausprägungsmaß der autistischen Verhaltensweisen ihres Kindes offen legen.
Heim »Weidenhof«
Familien mit geistig behinderten Angehörigen erleben soziale Belastung und Diskriminierung. Eine Unterbringung in Heimen und Anstalten kann die Familie dahingehend entlasten, daß die Problematik ein Stück weit außer Sicht gerät – für die betreffende Familie ebenso wie für die Gesellschaft, in der sie lebt – nicht jedoch für die Betroffenen. Einzelfälle, in denen geistigbehinderte Menschen sich oder andere gefährden, dienen als Alibi für die Notwendigkeit der sicheren Verwahrung von unzähligen anderen.
Wolfgang Urban: Ambulante Hilfen zum selbständigen Wohnen für geistig behinderte Erwachsene
Im Heim
- für die Untergebrachten gab es kein vegetarisches Essen. Ich hatte mich soweit ich weiß als Einziger durchgesetzt. Das zog sich jedoch über Jahre hin, während die Versorgung von Vegetariern unter den Mitarbeitern selbstverständlich war und blieb.
- als mein elektrischer Rollstuhl defekt war und ich abgeholt werden musste, wurde mir gedroht, daß ich beim nächsten mal nicht mehr in das Antoniushaus zurück transportiert werde. Was bedeutete, ich sollte auf dem Gelände des Hauser gefangen sein und sämtliche lebenswichtigen Aktivitäten und Kontakte aufgeben, dabei machte mich das »Leben« im EWB bereits schwer depressiv.
- um ein Vorstellungsgespräch für eine Arbeitsstelle aufzusuchen war ich auf den hauseigenen Bus angewiesen. Die Fahrzeit wurde vom EWB so festgelegt, daß ich zwei Stunden lang in der Kälte stand. Es war natürlich wohl bekannt, daß sich dabei meine Behinderung irrevisibel verschlechtern kann. Mit anderen Terminen von mir wurde ähnlich verfahren.
- einer meiner Freunde von mir wählte den Freitod, weil er sein Leben dort nicht mehr aushielt und keine Perspektiven mehr auszumachen waren oder diese negiert wurden. Er lernte das Leben ausserhalb von Einrichtungen nie kennen. […]
- bei meinem Auszug erlebte ich sehr viele Schikanen. Die Zuschüsse zur Wohnungseinrichtung gingen – wie mein gesamtes Geld – zuerst an den EWB und wurde dann nach Gutdünken an mich ausgezahlt. Ich bekam immer nur geringe Summen, so daß viele Fahrten notwendig wurden, gleichzeitig waren kaum Mitarbeiter oder Möglichkeiten da waren, um die Wohnung einzurichten. Außerdem reichten die Summen auch nicht für wirklich große Anschaffungen.
Heute suche ich mit meinem Freund eine neue Wohnung, es soll die gemeinsame werden! Wir sind seit über vier Jahren zusammen und wir führen ein Leben, daß in der Anstalt nicht einmal denkbar gewesen wäre. Zumal die Einrichtung von einer konservativen katholischen Institution geleitet wurde, mit all den bekannten Feindlichkeiten z.B. gegenüber Schwulen.
Den Leuten in der Anstalt (wir erinnern uns, sogenannte »Heime« oder »Einrichtungen«) wurden immer wieder falsche Informationen über das Leben draußen gegeben oder ein schlechtes Gewissen suggeriert, wenn sie Alltag einforderten. Kluge (und sehr dominante) Ratschläge kamen von Mitarbeitern, die selbst nicht kompetent dafür waren, aber Kontrolle ausüben wollten. Wir haben ja schon im Prospekt gelernt: das EWB unterstützt die Selbstständigkeit.
Manfred Keitel, Mainz
Ein Heimbewohner hat an Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V. einen 10-seitigen Brief über sein Leben im Heim geschrieben. Mensch zuerst veröffentlichte Auszüge aus diesem Brief. Darin war z.B. zu lesen:
So genannte Betreuerinnen achten darauf, dass man sich nicht zu viel aufs Brot schmiert.
Wenn einer sich mal gegen was äußert oder eine Meinung vertritt gegen das Personal, dann sagt man hier immer: »Sei lieb!«
Man steht hier 24 Stunden unter Beobachtung und alles wird in den Computer eingetragen.
Gute Heime – schlechte Heime?
Anstalt bedeutet die Aussonderung von Menschen, die nicht der Durchschnittsnorm entsprechen, d.h. anders sind: von Menschen, die nicht das normale Maß an Leistungen erbringen und daher abgelehnt und beiseite geschoben werden; von Menschen also, die sich auf irgendeine Art von der Allgemeinheit unterscheiden, indem sie z.B. anders aussehen, sich auffällig verhalten oder nicht ausreichend produktiv sind. Sie werden für ihr Anderssein bestraft und hinter Anstaltsmauern gesteckt. Die Bestrafung besteht darin, daß ihnen ihre Selbstbestimmung genommen wird, d.h. sie werden isoliert, ihrer (für uns selbstverständlichen) Rechte beraubt, und sie werden daran gehindert, ihre Lebensgestaltung selbst zu bestimmen. Alle Entscheidungen, die sie betreffen, sind fremdbestimmt. Eine besondere Rolle haben dabei die Fachleute (Therapeuten und Medizinmänner etc.). Sie streiten sich darum, wer von ihnen am besten weiß, durch welche Behandlung den zu Objekten abgestempelten Anstaltsbewohnern am besten geholfen werden kann. Resultat dieser Lebensbedingungen sind schwere Auswirkungen von Hospitalismus: z.B. Unselbständigkeit, geringe Selbstachtung, Lethargie, Aggressionen.
Dieser Absatz macht deutlich, dass das System Heim selbst das Problem ist, Strukturen, die ihm inhärent sind. Es geht nicht um eine Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ Heime. Auch persönliche Erfahrungsberichte zeigen, dass das Problem so nicht lösbar ist:
Als ich 1976 als 20-Jährige meinen Unfall mit einer Querschnittslähmung als Folge – aus der ein Rund-um-die Uhr-Hilfebedarf resultierte – hatte, kam ich gleich nach der medizinischen Rehabilitation in ein Heim für körperbehinderte Menschen. Damals schien es nur die Alternative zwischen einer Versorgung in der Familie oder einer stationären Einrichtung zu geben. Obwohl ich in einer „guten“ Einrichtung untergebracht war, ist mir das Leben mit seinen fremdbestimmenden Strukturen dort schnell unerträglich geworden. Ich konnte nicht entscheiden, wer mich wäscht und anzieht; ich konnte nicht bestimmen, wann ich aufstehe oder wann und was ich esse. Ich konnte nicht wegfahren; ich konnte nicht mehr über meine finanziellen Mittel verfügen. Entscheidungen, die mich und mein Leben betrafen, wurden zum größten und vor allem zum existenziellsten Teil von mir fremden Menschen getroffen. Es hat letztendlich fünf Jahre gedauert, bis ich es geschafft hatte, mich aus der Einrichtung freizukämpfen und in ein eigenes Haus zu ziehen. Ich würde niemals mehr zurück in eine Einrichtung gehen. Ein Leben dort ist für mich nicht lebenswert.
Elke Bartz
Selbstbestimmung??
Viele Heime werben mit dem Begriff „Selbstbestimmung“ – das ist so, wie wenn Atomkraftwerke mit Umweltschutz werben. Wie höhnisch und zynisch muss das erst auf die Bewohner_innen wirken?
Die Eltern, gesetzliche Betreuer, nehmen regen Anteil am Geschehen des Weidenhofs. Sie wählen aus ihrer Mitte die Heimfürsorgesprecher als Vertreter für den Heimbeirat, der nicht von den Bewohnern selbst gebildet werden kann.
Heim »Weidenhof«
Auch Prof. Klaus Dörner weist auf diesen Widerspruch hin:
Solange unser Menschenbild noch vom Institutions-Paradigma geprägt ist, werden wir den Pflegebedürftigen und Behinderten in der Regel als höchstes Grundbedürfnis die Selbstbestimmung zusprechen, gerade weil dies dort ziemlich folgenlos ist, da Selbstbestimmung in der Institution weitgehend unmöglich ist.
Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft
Ich wusste, dass ich reagieren muss, bevor es zu spät ist: Denn eine Unterbringung in einem Pflegeheim kam und kommt für mich nie in Betracht. Das würde die Aufgabe meines Lebens bedeuten. Ich entschied mich für die Persönliche Assistenz und kann jetzt ein selbstbestimmtes Leben nach meinen Vorstellungen führen. Dabei ist „Selbstbestimmung“ im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen. Mit Hilfe der Assistenz kann ich meine persönlichen Angelegenheiten selbst regeln und meine Termine selbst wahrnehmen; kann entscheiden, welches Personal ich einstelle; kann entscheiden, was ich anziehe, esse, wo ich hin gehe.
Isolde Hauschild
Die Institutionalisierung von Behinderten hat eine hundertfünfzigjährige Tradition. Das führt dazu, dass heute viele Leute Heime für Behinderte als selbstverständlich und notwendig betrachten. Die Gegenbewegung für ein Recht auf selbstbestimmtes Leben für alle ist dagegen erst einige Jahrzehnte jung.
Independent Living Bewegung
Seit den sechziger Jahren entstehen in den USA die sogenannten Independent Living Center, von denen es inzwischen ein dichtes Netz gibt. Sie werden vor allem von körper- und sinnesbehinderten Menschen betrieben. Ziel der Independent Living Bewegung ist es, behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben, speziell Wohnen zu ermöglichen. Dazu bieten die IL-Center ein weites Spektrum miteinander verknüpfter Dienstleistungen an, wie Beratung durch selbst Betroffene, Rechtsbeistand, Fahrdienste, Selbständigkeitstraining, Helfervermittlung, Gesundheitsfürsorge, Wohnungsvermittlung, Rollstuhlreparatur und anderes.
In ihrer Arbeit konzentrierten sie sich darauf, einen Helferpool aufzubauen und eine Liste von behindertengerechten Wohnungen zu erstellen, um so jedem behinderten Studenten die Entscheidungsfreiheit zu geben, zu wählen, wie und wo er in der Gemeinde leben wollte
Laurie 1982, in; Theunissen, ebd.
1979 wurden die Zentren für Independent Living in den USA durch ein Bundesgesetz anerkannt und werden seitdem vom Staat anfinanziert.
Die Würde des Risikos ist es, worum es in der IL-Bewegung geht. Ohne die Möglichkeit des Scheiterns, so wird gesagt, fehlt den behinderten Menschen die wahre Autonomie und das Zeichen wahren Menschseins das Recht, auf Wohl und Wehe zu entscheiden.
Und in Deutschland?
In Deutschland gibt es – ebenfalls seit den späten 60er Jahren – eine parallele Bewegung. In kritischer Distanz zur Behindertenarbeit der traditionellen Wohlfahrtsverbände und einiger Elternselbsthilfevereinigungen schlossen sich körper-, seh- und mehrfachbehinderter Menschen in einer „Krüppelbewegung“ gegen Diskriminierung, Benachteiligung und Unterbringung in Pflegeheimen, Behindertenanstalten oder Psychiatrien zusammen.
Als 1981 zum offiziellen „Jahr der Behinderten“ die traditionellen Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen »ausgiebig Selbstlob und Eigenschulterklopfen« (…) betrieben und gegenüber Betroffenen ihre paternalistisch präformierte Macht zu demonstrieren versuchten, wurde quasi kontrapunktisch zur Ideologie und den Eigeninteressen der herrschenden Verbände von Aktivisten und Sympathisanten der Krüppelbewegung in Dortmund ein „Krüppeltribunal“ veranstaltet, auf dem massive Menschenrechtsverletzungen wie Freiheitsberaubung, Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikation oder Zwangssterilisation angeprangert und thematisiert wurden. Fortgeführt wurde die Kritik an der Medizinierung, Diskriminierung und Institutionalisierung behinderter Menschen 1982 auf einem internationalen Fachkongress in München, auf dem Betroffene und Fachleute aus den USA, Holland und den skandinavischen Ländern mit Konzepten der Independent Living Bewegung und Realisierungsmöglichkeiten eines gemeindeintegrierten Lebens (schwerst) behinderter Menschen imponierten.
Theunissen, Die Independent Living Bewegung
In Schweden beispielsweise sind Heime für Behinderte abgeschafft und gesetzlich verboten worden. Diese Beispiele aus anderen Ländern ermutigten Selbsthilfe-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland, die Deinstitutionalisierung und den Aufbau von Zentren für selbstbestimmtes Leben sowie ambulanten Dienstleistungen voranzutreiben. In der eigenen Wohnung zu wohnen ist nicht nur langjähriges Ziel der Behindertenbewegung: Auch schreiben alle diesbezüglichen Gesetze seit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 schreiben das Prinzip »ambulant vor stationär« vor. Parallel zu den Heimen, die es weiterhin gab und immer noch gibt, etablierte sich das „ambulant betreute Wohnen“. Dabei erbringen die meisten Rehabilitationsträger die Leistungen zur Teilhabe als Sachleistungen.
Persönliches Budget
Seit einigen Jahren gibt es das Persönliche Budget, d.h. die Wahlmöglichkeit, sich seine Teilhabeleistungen als Geldleistung auszahlen zu lassen. Damit kann man seine Assistenzen selbst einstellen und auch wieder entlassen.
Wenn du jeden Tag jemanden brauchst, der dir beim Aufstehen hilft, ist es das beste, du stellst denjenigen selbst an. Das ist wichtig. Wenn jemand anderer die Helfer schickt, ist das nur eine andere Art von Institution. Du mußt deinen eigenen Stundenplan festlegen. Es fällt Profis schwer, das zu begreifen, aber es ist so wichtig für dich, daß du diese Verfügungsgewalt hast, jemanden anzustellen und zu entlassen. Deine Zeiten selbst zu bestimmen und solche Sachen.
(Phil Draper – Leiter des CIL in Berkeley) in: VIF, ebd.
Gaby Roth war noch keine vierzig Jahre alt, als sie einen Hirninfarkt erlitt. Acht Jahre verbrachte sie daraufhin in einem Wohnheim für Menschen mit psychischen Behinderungen – vollständig umsorgt und betreut. „Dann wollte ich mich wieder auf die eigenen Beine stellen.“ Mittlerweile wohnt die resolute 48-Jährige wieder in den eigenen vier Wänden. Zwar ist sie auch heute noch auf vielerlei Hilfen angewiesen, um ihren Alltag zu bewältigen, aber sie entscheidet selbst darüber, wann, wo und von wem sie sie in Anspruch nimmt. Möglich macht dies das Persönliche Budget, ein individuell berechneter Geldbetrag, mit dem Menschen mit Behinderungen die nötigen Dienste selbst auswählen und bezahlen können. Die gesetzlichen Grundlagen, verankert im Sozialgesetzbuch IX, schuf der Gesetzgeber 2001. Am 1. Juli 2004 wurde das Persönliche Budget als flächendeckende Regelleistung eingeführt, nachdem es zuvor bereits in einigen Bundesländern modellhaft erprobt worden war.
Das Kompetenzzentrum Persönliches Budget des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bietet Unterstützung bei der Suche nach tragfähigen Lösungen. Das auf drei Jahre angelegte Modellprojekt wird von der Aktion Mensch gefördert.
Bundesinitiative »Daheim statt Heim«
Behinderte und ältere Menschen, sollen wie alle anderen Menschen auch, so lange wie möglich in ihrer eigenen Wohnung und im gewohnten Umfeld leben können. Zur Verwirklichung des gesetzlich normierten Wunsch- und Wahlrechtes müssen sie die nötige Unterstützung bekommen.
Bundesinitiative »Daheim statt Heim«
Um dieses Ziel zu erreichen, fordert die Initiative:
- einen Baustopp für neue Heime,
- den Abbau bestehender Heimplätze,
- den flächendeckenden Aus- und Aufbau individuell- bedarfsdeckender vernetzter Unterstützungsangebote für ältere und behinderte Menschen,
- die Garantie der Wahlmöglichkeiten der Betroffenen, u.a. durch persönliche Budgets,
- die Gewährleistung des Grundsatzes »Daheim statt Heim« in allen gesetzes- und verwaltungstechnischen Regelungen auf allen Ebenen und in der Praxis,
- die Beteiligung der Betroffenen an dem Reformprozess nach der Devise »Nichts über uns ohne uns«.
Die Unterstützerliste ist inzwischen sehr lang. Bundestagsangeordnete, Behindertenvertretungen wie ForseA e.V. und Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V. und Selbstbestimmt Leben e.V., Sozialverband Deutschland e.V., speziell die Vizepräsidentin des SoVD-Bundesverbandes Marianne Saarholz und Leiter der Abteilung Sozialpolitik Hans-Jürgen Leutloff, Behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.PDS im Thüringer Landtag Maik Nothnagel und Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung Berlin Martin Marquard, Gerhard Wahnfried von der Elternhilfe Rett-Syndrom und Landesverbände Psychiatrie-Erfahrener und Lebenshilfe, Eltern, Assistenten und Heilpädagogen, nur um einige zu nennen. Autismus Deutschland e.V.? Fehlanzeige. Aspies e.V.? Leider auch nicht. Keine Autismus-Organisation ließ sich auf der Unterstützerliste finden.
Niemand muss im Heim leben.
Kein chronisch psychisch Kranker und kein schwieriger geistig Behinderter muß dauerhaft in einer Anstalt leben. Das klingt wie eine Provokation und wie eine Spinnerei – aber es ist der fachliche internationale Standard. Deutschland hinkt in diesem Prozeß hinterher, während etwa in England schon die Hälfte der Heime aufgelöst worden ist. In der Bundesrepublik könnten 70 Prozent der chronisch psychisch Kranken und 50 Prozent der geistig Behinderten unter fachlichen Gesichtspunkten auf der Stelle entlassen werden. Man muß sogar noch zuspitzen: Sie müssen entlassen werden, weil sie mit ambulanter Betreuung genauso gut oder besser zurechtkommen – bei den restlichen 30 Prozent würde es etwas länger dauern, aber im Prinzip gibt es keinen chronisch psychisch oder geistig Behinderten, der dauerhaft in einer Institution leben muß. Das ist nicht nur fachlich geboten, sondern unter dem Aspekt der Humanität und der Würde des Menschen zwingend, und schließlich braucht man dafür weniger als die Hälfte der Kosten.
Prof. Dörner beschreibt in mehreren Artikeln die Auflösung der Psychiatrische Anstalt Landeskrankenhaus Gütersloh, deren Leiter er lange Zeit war. Heute werden alle (!) früheren Bewohner_innen ambulant unterstützt oder benötigen diese Form der Unterstützung nicht mehr.
Von 1981 bis 1996 wurden alle 435 Langzeitpatienten dieser psychiatrischen Anstalt entlassen, 70 bis 80 Prozent davon in ambulante Betreuung, in Wohnungen, Wohngemeinschaften oder in die eigenen Familien. Das gilt auch für die 70 geistig Behinderten, die nur wegen ihrer besonderen Schwierigkeit ins Krankenhaus gekommen waren. Wir haben sie inzwischen alle aufgesucht und sorgfältig nachuntersucht (die Untersuchung erscheint unter dem Titel »Ende der Veranstaltung – Anfänge einer Chronisch-Kranken Psychiatrie« im Jakob van Hoddis Verlag) : So gut wie keiner will zurück, fast alle fühlen sich wesentlich besser, es gibt keine vermehrten Suizide und kein Abdriften in die Obdachlosigkeit. Dabei gehört zu der dafür erforderlichen Professionalität, daß kein Mitarbeiter dadurch seinen Arbeitsplatz verloren hat und daß wir nun mit weniger als der Hälfte der Kosten auskommen.
In anderen Ländern, z.B. Schweden, gibt es schon lange keine Heime für behinderte Menschen mehr (Quelle).
Aber auch die Art, in welcher man die Assistenz bekommt, ist auch unterschiedlich. Es gibt nicht, überhaupt nichts besonderes an Heimen, das sie befähigen würde, Assistenz anzubieten, die niemand anderes anbieten kann. Tatsächlich ist die die Qualität der Assistenz in Heimen sogar tendenziell niedriger als die Qualität derselben Unterstützung außerhalb von Heimen. Und vieles, was sie anbieten, ist überhaupt keine Assistenz, sondern eine Art von Anti-Assistenz, die man niemandem geben sollte. Zu sagen, dass es eine Art von Personen gibt, die grundsätzlich in Heime gehören, ist falsch.
Ballastexistenz, This twenty-four-hour support thing.
Eine weitere Erfahrung in Gütersloh war übrigens die, dass einige Jahre nach der Auflösung der Anstalt beim zuständigen Amt ein Antrag auf Betrieb eines Behindertenheims eingereicht wurde. Problem: das Amt muss den Antrag genehmigen, wenn es weniger als eine bestimmte Anzahl Heimplätze auf die Einwohnerzahl gerechnet gibt. Dass die Leute ambulant versorgt wurden, war den Antragstellern bekannt – aber ein Heim schafft Arbeitsplätze und wirft Gewinn ab und deshalb wird der Bedarf eben geschaffen – auf Kosten der (zukünftigen) Bewohner_innen – gegen ihre Menschenwürde, gegen die Verfassung (eine Unterbringung im Heim ohne Notwendigkeit, ohne über Alternativen zu informieren, ist Freiheitsentziehung und Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, vgl. Dörner.
Fazit
Ich und jeder von uns hat noch lange und hart an sich zu arbeiten, bis wir akut Kranken, chronisch Kranken, Behinderten und ganz besonders Heimbewohnern, die wir eher nur als graue Masse empfinden, gleiche Wertschätzung und gleiche Rechte zubilligen, d. h. bis wir uns verfassungskonform verhalten. Dieses unser aller Handicap, an dem wir aufgrund unserer Tradition der hundertfünfzigjährigen Institutionalisierung von Behinderten leiden, bitte ich als den Schatten zu beachten, der über allem liegt, was ich Ihnen (…) zu erzählen habe.
Dörner, Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft
Ein Buch zum Persönlichen Budget:
- Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität. Teilhabe mit einem persönlichen Budget von Elisabeth Wacker, Gudrun Wansing und Markus Schäfers.
Zuletzt bearbeitet am 29.01.2022.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus