Bildkarten-Kommunikation als iPhone-App: Interview mit Lisa Domican
Lisa und Grace Domican
Lisa Domican entwarf eine iPhone-App, um ihrer autistischen Tochter Grace die Kommunikation zu erleichtern. Die in Irland lebende Mutter von zwei autistischen Kindern sprach dazu den Dubliner Studenten und iPhone-Entwickler Steven Troughton-Smith an, ob er die iPhone-App programmieren würde. Dieser sagte sofort zu. Inzwischen gewann die iPhone-App Grace
den Irish Web Award 2010 und den World Summit Award Mobile. Die App ist nach Lisa Domicans Tochter benannt: Grace.
Hier ist Lisa Domican im Interview mit Autismus-Kultur.
Wie kamst du auf die Idee für diese iPhone-App?
Ich habe eine Anzeige für iPhone an der Längsseite eines Busses gesehen – für mich sah es wie ein Bildkarten-Buch aus. Grace verwendete sechs Jahre lang ein tatsächliches Buch mit kleinen Bildern, bevor ich die App entwickelte.
Was genau macht die iPhone-App?
Sie bildet ein Buch von Seiten ab, die all die Bilder haben, die eine autistische Person braucht, um zu kommunizieren. Farben, Zahlen, Formen, Essen und Trinken, Sachen zum Spielen.
Die App steckt jede dieser Seiten in einem Ordner, den man dann öffnen kann und das Bild auswählen kann, das man will. Das kleine Bild taucht dann unten am Bildschirm auf. Setze die ganzen Bilder zusammen und du bildest einen Satz.
Wie kommt deine Tochter mit der iPhone-App zurecht?
Das Buch mit den Bildern funktionierte gut zuhause oder in der Schule, aber es war zu groß, um es mit herumzutragen, wenn wir einkaufen, schwimmen oder zu McDonalds gingen. Wenn sie also etwas haben wollte, das sie nicht erreichen konnte, hatte sie keine Möglichkeit, danach zu fragen. Sie stampfte dann vielleicht mit den Füßen auf, oder weinte oder versuchte, nach Dingen zu greifen und ich wusste nicht, was sie wirklich wollte.
Sie erlebt jetzt viel weniger Frustration und Wutanfälle, weil sie immer erklären kann, was sie will, sogar in einer neuen Situation wie in einem Supermarkt. Wenn wir etwas suchen, was sie nicht erklären kann, nehmen wir das iPhone und machen ein Foto, oder wir googeln mit dem iPhone im Internet, speichern das Bild und zeigen ihr dann, wie sie danach fragen kann.
Ihre Lautbildung hat sich durch Übung verbessert. Sie ist von der Verwendung einzelner Wörter wie twink
dazu avanciert zu sagen Ich will Apfelsaft trinken
und sie fotografiert und googelt ihre eigenen Bilder.
Grace kann kein neues Wort lernen, wenn sie nicht das Bild dazu hat, um sie daran zu erinnern. Ohne Bild nennt sie die Badematte ein Frr
. Sie nennt auch die Haarbürste, den Spiegel und ihre Zahnbürste Frr
– das ist nicht so gut.
Mit einem Foto der Bürste sagt sie Bür
– das Bild ist ihre Erinnerung. Eines Tages wird sie in der Lage sein, das ganze Wort zu sagen und sich daran zu erinnern, weil sie sich an das Bild erinnern kann.
Du hast die technischen Möglichkeiten des iPhones bewusst nicht ausgereizt und verzichtest auf eine Stimmausgabe. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Die Kommunikation durch den Austausch von Bildkarten gewährleistet die soziale Grundlage – ein Anwender muss einen Zuhörer finden, der den Bilder-Satz mit ihm teilt und dabei jedes Wort formt und einsagt. Wenn Gracie mir das Bild des Spiegels zeigt, sage ich Sss…
und oft wird sie dann Spiegaa
sagen.
Auf diese Weise üben wir langsam und verbessern ihre Stimmgebung. Gracie hat erst mit sechs Jahren sprechen gelernt. Ihre Mundmuskulatur ist als schwach entwickelt. Indem ich die Wörter forme und einsage, kann ich ihr helfen, ihre Stimmgebung zu entwickeln, so dass jeder verstehen kann, was sie sagt.
Sprachausgabe-Geräte haben zwei Probleme.
- Die autistische Person lernt damit die soziale Grundlage nicht. Sie ist vielleicht allein und drückt den Knopf für
Ich will einen Keks
, aber sie geht nicht los, um die Person zu finden, die ihr einen Keks geben kann. Das ist ein besonderes Problem bei Autismus. Menschen mit Down-Syndrom oder anderen geistigen Beeinträchtigungen haben üblicherweise besser soziale Fähigkeiten. Sie wissen, dass siehallo
sagen sollen, wenn sie jemanden treffen und sie werden sich auch verabschieden. Die autistische Person muss daran erinnert werden, das zu tun, weil sie sozialen Kontakt nicht selbstverständlich lohnend findet.Wenn du sicherstellt, dass sie dich immer finden müssen, um die Bilder mit dir zu teilen, kannst du sie mit dem belohnen, worum sie bitten. Dann finden sie dich sozial lohnend und fangen vielleicht sogar an, mehr sozialen Kontakt mir dir aufzunehmen. Das ist sehr wichtig für Eltern, die diese Art der Interaktion mit ihrem Kind vielleicht nie hatten.
- Der Satz muss geformt und eingesagt werden.
Wenn Gracie mit dem SatzIch will Kuchen
zu mir kommt, werde ich ihn ihr vorlesen und ihr die Möglichkeit geben, jedes Wort zu sagen. Sie bekommt ein kleines Stück Kuchen.Wenn sie mir den Satz zeigt –
Ich will Kuchen
– und dann mit mir spricht:Ich will… Kuchen!
, gebe ich ihr ein größeres Stück Kuchen! Sie weiß dann, dass das noch besser war, als nur auf die Bilder zu zeigen. Wenn sie ohne ihre Bilder zu mir kommt und sagtIch will Kuchen
, dann würde ich ihr den ganzen Kuchen geben. Dann weiß sie, dass Sprechen eine wirklich gute Sache ist.Das kannst du nur tun, wenn du interagierst, wartest und dem Kind jedes Wort einsagst. Eine elektronische Stimme kann das nicht.
Was sind deine weiteren Pläne für die Grace-App?
Wir wollen eine kostenlose Version der App veröffentlichen, um allen autistischen Kindern dabei zu helfen zu sagen, wenn ihnen etwas weh tut. Es ist schwierig, das autistischen Kindern beizubringen, selbst wenn sie sprechen können. Ich denke, es wäre großartig, wenn wir das jedem ermöglichen könnten.
Ich würde gern ein bisschen mehr reisen, um die App vorzuführen und Leuten zu helfen, ihren autistischen Kindern beizubringen zu kommunizieren und sich selbständig auszudrücken.
Ich würde mich gerne mit Projekten zusammentun, die die Grundversion der Grace App in andere Sprachen übersetzen, so dass mehr Leute außerhalb der englischsprachigen Welt davon profitieren können. Besonders interessiert mich die Möglichkeit, eine arabische Version der App zu entwickeln, durch die großartigen Kontakte, die ich auf den World Summit Awards geknüpft habe.
Ich bin besonders der UN und den World Summit Award for Mobile Content dankbar dafür, dass sie mich in Kontakt bringen mit so vielen anderen talentierten Entwickler*innen, der Jury, den Moderator*innen und den Geschäftsleuten, die so unterstützend und ermutigend waren. Ich möchte auch den Entwickler Steven Troughton-Smith mit einschließen – der die ganze Programmierung übernommen hat und die App verbessert hat, bis sie genau zu der Art, wie Grace sie verwendet, gepasst hat.
Vielen Dank für das Interview.
Die iPhone-App Grace
läuft auf dem iPhone, dem iPod touch und dem iPad. Sie ist im Apple iTunes-Store erhältlich.
Weitere Links:
Bildquelle: www.maxwellphotography.ie
Zuletzt bearbeitet am 01.02.2022.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus