Wir sind autistisch und das ist gut so.

Ich erinnere mich an meinen ersten Traum – oder zumindest an den ersten, an den ich mich erinnern kann. Ich bewegte mich durch Weiß, keine Gegenstände, nur Weiß, obwohl mich helle Flecken flaumiger Farben überall umgaben. Ich ging durch sie hindurch, und sie bewegten sich durch mich hindurch. So etwas brachte mich zum Lachen.

So lauten die ersten Zeilen aus Donna Williams Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst[1]. So hat es angefangen, und jetzt ist es zu Ende.

Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst war das erste autistische Buch, das ich gelesen habe. Ich ging damals noch zur Schule. Wir hatten noch kein Internet. Das Wort Autismus habe ich damals ganz hinten im Kopf abgelegt. Erst Jahre später habe ich es wieder herausgeholt, als ich in den Semesterferien gerade Zeit hatte. Was könnte ich jetzt machen, dachte ich mir – und googelte nach Autismus.

Danach habe ich Donnas Buch noch mal gelesen. Und viele andere.

Donna Williams wird unvergesslich für mich bleiben. Mit ihrem Buch hat sie mir ein wertvolles Geschenk gemacht, das mein Leben verändert hat.

Und jetzt ist sie gestorben.

Donna Williams

Donna Williams. Fotografiert von Chris Samuel.

Donna Williams wurde 1963 in Melbourne geboren. Die zweijährige Donna wurde für gehörlos gehalten, sah durch Menschen hindurch und verletzte sich selbst.

Zu dieser Zeit wurde Autismus als Kindheitspsychose missverstanden, und als Donna für drei Tage zur Diagnostik in ein Krankenhaus eingewiesen wurde, kam sie mit dieser Diagnose wieder heraus.

Ich wuchs auf als sehr sensorisches, echolalisches, bedeutungstaubes, bedeutungsblindes und gesichtsblindes Kind. Ich habe durch Nachahmung und Auswendiglernen gelernt. Ich fühlte mich angezogen von Licht, Farben, Texturen, Bewegungen, Geräuschen und Tönen. Meine Welt war eine erspürte Welt aus Mustern, Melodien und anderen sensorischen Empfindungen.

Donna Williams hatte eine Sprachverarbeitungsstörung. Ihr Vater nannte sie Polly, nach dem Papageienname, weil sie immer alles wiederholte. Sätze konnte sie erst im Alter von 9-11 Jahren verstehen. In der Schule versagte sie zunächst. Nachdem vier High Schools sie als nicht testbar eingestuft hatten, verließ sie mit 15 die Schule. Sie wurde obdachlos, wurde von Fremden ausgebeutet, versuchte immer wieder zu arbeiten und hatte dreißig Jobs in drei Jahren.

Sie konnte kaum lesen und rechnen, als ein Psychiater sie mit 18 ermutigte, noch einmal ins Bildungssystem zurückzukehren. Und allen (niedrigen) Erwartungen zum Trotz absolvierte Donna das College und entschied sich, zur Universität zu gehen. Dort erreichte sie ein Honours Degree in Soziologie, einen Abschluss in Linguistik und ein Diplom in den Erziehungswissenschaften.
Als Donna Williams Mitte zwanzig war, galt Autismus immer noch als sehr selten und nur wenige Fachkräfte stellten die Diagnose. Donna Williams wurde im Alter von 26 Jahren mit Autismus diagnostiziert, von Australiens führendem Autismus-Experten zu dieser Zeit, Dr. Lawrence Bartak.

1991 schrieb Donna ihre Autobiografie, Nobody Nowhere, das erste von neun Büchern. Es war die erste autistische Autobiografie, die zum internationalen Bestseller wurde. Er war zehn Wochen lang auf Platz 1 der New York Times Bestsellerliste und wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch ist das Buch unter dem Titel Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst erschienen.

Gefolgt wurde es 1994 von Somebody Somewhere (auf Deutsch Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern), das ebenfalls ein internationaler Bestseller wurde – ein Jahr bevor Temple Grandin ihren Bestseller Thinking in Pictures veröffentlicht hat.

Donna Williams war in mehreren Dokumentarfilmen und Reportagen zu sehen hielt Vorträge auf internationalen Autismus-Konferenzen. Sie wurde eine Autismus-Fachkraft und arbeitete mit mehr als 100 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum.

Donna Williams hatte schon immer ein großes Verlangen danach, sich durch Kunst auszudrücken. In ihrer Kindheit hemmten Ängste ihre Fähigkeit, das zu tun, aber als Erwachsene wurde sie zur produktiven Malerin, begabten Bildhauerin, und Liedermacherin.

Ich bin eine Bildhauerin. Wenn das Leben mir Scheiße gibt, mache ich Skulpturen daraus.

Sie heiratete Chris Samuel und wurde Donna Samuel. Der Name, mit dem sie sich identifizierte, wurde aber Polly Samuel, nach dem Spitznamen, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Donna Williams blieb ihr öffentlicher Name.

Auf ihrer Website beschreibt sie Chris als ziemlich Aspie und schreibt über die Vorteile einer Partnerschaft, bei der beide Partner im Autismus-Spektrum sind:

Wir können ein autistisches Leben leben, und wenn beide sich wohlfühlen und in dieser autistischen Wirklichkeit zu Hause sind, kann Autismus eine Bereicherung sind statt ein Hindernis.

Während der letzten Jahre ihres Lebens kämpfte Donna gegen Brustkrebs. Im September 2016 erfuhr sie, dass der Krebs Metastasen gebildet hatte und nicht mehr heilbar war. Im Februar 2017 stellte sich heraus, dass die letzte Chemotherapie, die ihr Leben noch hätte verlängern können, nicht anschlug.

Donna hat auch aus dieser Zeit das Beste gemacht. Mit viel Lachen, Feiern, und Albernheiten. Noch im Hospiz.

Und jetzt ist es vorbei.

Blumenwiese: Kleines weißes Schleierkraut und eine einzelne rote Mohnblume

Damals in der Schule fragte uns ein Lehrer, ob wir wüssten, was Autismus ist.
Zurückgezogenheit, Schwierigkeiten in Kontakt mit anderen Menschen, sagte jemand.
Richtig, sagte der Lehrer.
Autistische Menschen nehmen anders wahr, fügte ich hinzu, zum Beispiel können Neonröhren ihnen Probleme bereiten.
Das ist falsch, sagte der Lehrer, da musst du was verwechselt haben.
Donna Williams schreibt es in ihrem Buch, sagte ich, und sie ist selbst Autistin, da muss sie es doch wissen.
Naja, sagte der Lehrer, das war bestimmt nur bei ihr so. Das hat nichts mit Autismus zu tun.

Es stand ja nicht im Lehrbuch.

Damals galt es nicht viel, was autistische Menschen sagten oder schrieben. Auch heute noch braucht es einen neurotypischen Professor, der 15 Jahre später feststellt, was autistische Menschen schon lange gesagt haben.

Aber das ändert sich. Und Donna Williams ist eine, die ganz viel zu dieser Veränderung beigetragen hat. Ihr Buch war eines der ersten Bücher, in denen autistische Menschen über ihr Leben in einer nicht-autistischen Welt geschrieben haben.

Donna Williams war ein wunderbarer Mensch. Sie wusste, was wichtig ist im Leben. Sie hat das Leben zahlreicher anderer zum Positiven verändert. Vielen war sie eine Mentorin. Ihre Lebenserfahrungen hat sie immer großherzig geteilt, bis zum Schluss.

Donna Williams ist tot. Aber sie wird nie ganz verschwinden, weil sie die Welt ein Stück weit verändert hat. Und weil die autistische Community sie nicht vergessen wird.

Heute lese ich Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst zum dritten Mal. Zum Abschied.

Rest in Peace, Polly Samuel.

 

 

Buchcover von Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst
Buchcover von Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern

  1. Ich habe diese Zeilen schnell aus der englischen Ausgabe übersetzt, weil ich die deutsche nicht zur Hand habe. Die Übersetzung in der deutschen Ausgabe kann davon abweichen.

Foto: Donna Williams 2011. Fotografiert von Chris Samuel, CC-BY-2.0

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus