Wir sind autistisch und das ist gut so.

Ich glaube, dass die meisten Leute, die eine »Heilung« für den Autismus ihrer Angehörigen suchen, dies mit den besten Absichten tun: Sie sehen, dass ihre Angehörigen Schwierigkeiten haben oder nicht in der Lage sind, erwartungsgemäß zu funktionieren, und wollen ihnen helfen, diese Schwierigkeiten oder dieses Unvermögen zu überwinden.

Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.

Sie machen den grundlegenden Fehler, Autismus zu verwechseln mit den Beeinträchtigungen, die sekundär auftreten. Autismus selbst ist eine Reihe von Unterschieden in der Organisation des Gehirns und des Geistes. Diese Unterschiede äußern sich in jeder autistischen Person in unterschiedlichem Ausmaß und Verhältnis, genauso wie auch die sekundären Schwierigkeiten in unterschiedlichem Ausmaß und Verhältnis auftreten.

Zu sagen »Ich will, dass mein Kind lernt zu lernen«, »Ich will, dass mein Kind lernt zu sprechen«, »Ich will, dass mein Kind in der Lage ist, mit selbstverletzendem Verhalten aufzuhören«, »Ich will, dass mein Kind in der Lage ist, den sensorischen Stress zu überwinden, den es erlebt« oder »Ich will, dass mein Kind besser in der Lage ist, mit neurologisch typischen Menschen zu interagieren und ihr Verhalten zu verstehen« ist etwas ganz, ganz anderes, als zu sagen »Ich wünschte, mein Kind wäre nicht autistisch«.

Die Äußerung »Ich wünschte, mein Kind wäre nicht autistisch« impliziert, zumindest für mich als Vater, und auch als Einwohner der Randgebiete des Autismus-Spektrums, dass die Eltern, die diese Aussage machen, eine Veränderung des inneren Kerns dessen, was das Kind ist: Wie es die Welt wahrnimmt und verarbeitet und vor seinem geistigen Auge nachbildet, so wie wir es alle auf unsere eigene Art machen.

Das ist etwas ziemlich Grundlegendes.

Würden wir uns ebenso wohlfühlen mit der folgenden Äußerung über gleichermaßen Grundlegendes, auf dem das Selbst aufbaut: »Ich wünschte, mein Kind wäre kein Mädchen«? Solche Empfindungen werden heutzutage in vielen Kulturen missbilligt, und das aus gutem Grund; leider gibt es sie immer noch, im Geheimen gehegt, wo sie missbilligt werden, und unverhohlen, wo nicht.

Was ist wirklich mit letzterer Äußerung gemeint? Weiblich zu sein wird offenkundig nicht als Behinderung betrachtet, zumindest nicht in den Kulturen, die die Äußerung missbilligen. (Obwohl man unter praktischen Gesichtspunkten einwenden könnte, dass es ein schwerwiegender Nachteil ist, solange man deshalb 59 Cent statt einem Dollar verdient.)

Warum würden Eltern also solch ein Gefühl hegen, wenn auch nur heimlich?

Ich denke, weil sie unerfüllte Erwartungen hatten, und immer noch haben. Vielleicht wäre es einfacher, mit einem Jungen eine Beziehung herzustellen – besonders für einen Vater. Vielleicht gibt es keine Jungen in der Familie. Vielleicht wollten die Eltern unbedingt einen Jungen.
Jedenfalls lernen die meisten von uns Eltern schließlich, solche unerfüllten Erwartungen zur Seite zu legen, und unsere Kinder entgegen dieser Erwartungen aus ganzem Herzen zu lieben.
Vielleicht wünschen manche Eltern sich, sie hätten einen Jungen, weil ein Junge in dieser Gesellschaft erfolgreicher sein kann.

Die meisten von uns reagieren auf den bedauernswerten, aber hartnäckig anhaltenden Fakt, dass das wahr ist, damit, dass wir unseren Töchtern helfen, erfolgreich zu werden: Wir geben ihnen die moralische Unterstützung, um in die Bereiche des Bestrebens einzudringen, die bisher »Boys only« waren, wie Mathe oder Naturwissenschaften oder Sport oder das obere Management. Wir erkennen mühelos die Faktoren, die Beeinträchtigungen darstellen, ohne sie mit den Aspekten des Weiblich-Seins zu verwechseln, die den inneren Kern dessen bilden, wer unsere Töchter als Personen sind. Wir können diese Faktoren voneinander abgrenzen und daran arbeiten, sie abzuschwächen.
Es ist einfach, wenn die Faktoren, die Beeinträchtigungen darstellen, von der Gesellschaft als klares Unrecht gesehen werden.

Jetzt gehen wir zurück zu der Äußerung »Ich wünschte, mein Kind wäre nicht autistisch«. Hier gibt es begleitende Schwierigkeiten oder ein Unvermögen, erwartungsgemäß zu funktionieren. Es ist nicht so einfach zu folgern, dass die Faktoren, die Beeinträchtigungen darstellen, alle klares Unrecht in der Gesellschaft sind. (Obwohl das, nebenbei gesagt, in viel höherem Maße der Fall sein sollte: Diese Gesellschaft ist viel zu intolerant gegenüber Unterschieden in der sozialen Interaktion, und viel zu wenig entgegenkommend gegenüber Unterschieden in der sensorischen Verarbeitung.)

Es ist so einfach, die Schwierigkeiten und Unfähigkeiten über einen Kamm zu scheren mit der inneren Gestalt, der Art zu sein, und dabei die ganze Person, so wie sie ist, abzuwerten.
Eine unglaubliche Menge an Abwertung beruht auf geringen gesellschaftlichen Erwartungen darüber, was autistische Menschen erreichen können. Autismus wird immer noch von viel zu vielen als beschämend angesehen.

Es ist für die meisten Eltern sehr viel schwieriger, unerfüllte Erwartungen und darauf basierende Träume über das Neurologisch-Typischsein beiseite zu legen. Jim Sinclairs Essay »Trauert nicht um uns», der das sehr reale Erfordernis, diese Erwartungen und Träume beiseite zu legen, schonungslos ausspricht, hat einige ablehnende Reaktionen hervorgerufen.

Viel zu wenige haben die gedankliche Klarheit, um die Beeinträchtigungen, die sekundär zu Autismus in unterschiedlichem Verhältnis und Ausmaß auftreten, zu unterscheiden von Autismus, der grundlegend dafür ist, wer man ist und wie man die Welt erfasst.

Hier, wo eine klare Sicht so dringend gefragt ist, um die sekundären Beeinträchtigungen zu erkennen, sie abzugrenzen und abzumildern, ist es viel zu einfach, sie allem, was das Autistisch-Sein ausmacht, über einem Kamm zu scheren, und nicht nur die beeinträchtigenden Faktoren, sondern die grundlegende Art zu sein als »den Feind« ansieht. Viel zu viele von uns tun das.
Bitte, bitte, versuchen Sie, diesen Unterschied zu machen, und nicht alles über einen Kamm zu scheren.

Einer meiner Freunde von ANI (Autism Network International, eine englischsprachige Interessenvertretung und ein soziales Netzwerk von und für autistische Menschen und ihre Angehörigen) drückte es am besten aus: Bekämpfe autistische Beeinträchtigungen, nicht Autismus.
Ich verstehe es so, dass es das ist, was Temple Grandin meinte, als sie Oliver Sacks sagte, dass sie, wenn sie mit den Fingern schnippen könnte, um nicht mehr autistisch zu sein, sie sich entscheiden würde, das nicht zu tun, weil sie dann nicht länger sie selbst wäre.

Aber offensichtlich erkennt sie die Schwierigkeiten, auf die sie trifft, kann sie abgrenzen und arbeitet daran, sie abzuschwächen, indem sie mit gesundem Menschenverstand und ihrer Scharfsinnigkeit als Ingenieurin daran arbeitet, sensorische Probleme zu lösen und planvoll und kognitiv Workarounds zu entwickeln, um die neurologisch-typische soziale Interaktion zu verstehen, wofür ihr die neurologisch-typische Intuition fehlt.

Junge mit GrimasseMeine Träume für meinen Sohn Jeremy, der viereinhalb Jahre alt und mit atypischem Autismus diagnostiziert ist, sind, dass er aufwächst, um ebenso im Einklang ist mit seinem Leben, seiner Arbeit und seinem Selbst, wie Temple Grandin mit ihrem. Und das ist auch mein Wunsch für meine sechseinhalbjährige Tochter Rachel, die keine Autismus-Spektrum-Diagnose hat.

Allerdings scheint der Weg, den wir gewählt haben, was eine Intervention für Jeremy angeht, die Eiferer auf beiden Seiten der Debatte um Heilung/Genesung/Prävention von Autismus zu verprellen.
Jeremy ist in einem Programm, das die Discrete Trial[1] Methode verwendet. Wir sehen Discrete Trial als ein Mittel für ihn, sich im Lernprozess selbst zu helfen. Er hat bemerkenswerte Fortschritte dabei gemacht zu lernen, wie man lernt. Die wachsenden kognitiven Schritte und die Fülle an konkreten Beispielen, mit denen gedankliche Sets angereichert werden, sind genau das, was seine Art von Verstand braucht. Er mag auch den netten Ego-Trip stürmischer Anerkennung, dass er etwas erreicht hat, wenn er etwas gut hinbekommt.

Seine Art von Verstand und seine Art von Stolz und seine Art von stürmischem Enthusiasmus sind exquisit und grundlegend menschlich – genauso sehr wie andere Arten von Verstand und Stolz und Gemütsregungen.

Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem zu erlauben, diese Dinge an ihm zu ändern. Ich will aber, dass er lernt, wie man Menschen mit anderen Arten von Verstand, von Stolz und Gefühlen versteht und mit ihnen interagiert und zusammenarbeitet, und während er das tut, seine Eigenheiten wertschätzt, egal wie klein die Minderheit ist, in der er sich befindet. Das ist ein großer Unterschied.

Das Ergebnis ist, dass er wahrscheinlich nie »ununterscheidbar von Gleichaltrigen« sein wird, oder was auch immer es ist, das diejenigen, die das volle Programm der Lovaas[2]-Verfechter schlucken, als Kriterium für »Genesung« ansehen.
Heißt das, dass er nicht zum vollen Potential seiner Fähigkeiten erfolgreich sein wird?

Wohl kaum.

Ich denke, dass er weit besser dran ist als ein Kind, dass das Ziel vorgesetzt bekommt, ununterscheidbar von Gleichaltrigen zu werden. Er wird keine Angst haben, anders zu sein, wenn sein Bauch und sein Kopf ihn dazu machen; aber er wird, so hoffe ich, lernen zu erkennen, was diese Unterschiede sind, und ausgerüstet sein, um bewusst zu entscheiden, für welche dieser Unterschiede er sich kognitive Workarounds schaffen will.

Ich werde von den Anti-Lovaas-Leuten zusammengeschissen (tut mir leid, aber um es präzise auszudrücken, muss ich den Terminus technicus verwenden 🙂 ), weil Jeremy an Discrete-Trial-Programmen teilnimmt, und sie nicht verstehen können, dass es möglich ist, solche Programme wirksam einzusetzen, wo und wann sie wirklich helfen, wirklich als Steuerungswerkzeuge dienen, ohne das volle Programm der Mentalität von Heilung/Genesung zu schlucken, das in der Lovaas-Community so seuchenartig verbreitet ist .

Und ich werde von den Pro-Lovaas-Leuten zusammengeschissen, weil ich nicht das ganze Programm schlucke. Ich glaube nicht an Heilung, ich glaube nicht an Genesung, Ich glaube nur an Jeremy, und uns, seine Familie und seine Lehrkräfte, und an das, was er tun kann, damit die Welt für ihn Sinn ergibt und er seinen Weg darin findet.

Und was Prävention angeht: Ich glaube, das Autismus so ein subtiler Mix von neurologischer Abweichungen von der Norm ist, dass man, wenn man ihn wirklich auf einer genetischen Ebene verhindert wollte, nicht nur die Kombination aus Behinderungen verhindern würde, die daraus entstehen, sondern auch Genius, Humor, Talent und nützliche unterschiedliche Arten zu denken und zu fühlen, Kunst zu schaffen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die ebenfalls aus diesen neurologischen Abweichungen resultieren können.

Die meisten autistischen Menschen, die ich kenne, gehören zu den zutiefst menschlichen Personen, die ich kenne. Die Menschheit wäre weit, weit ärmer ohne Leute wie sie.

Erforschen wir doch die genetische, neurobiologische, neurochemische und neurophysiologische Ätiologie von Autismus, um neue Wege zu finden, um die sensorischen Schwierigkeiten zu mildern, und um die atypischen kognitiven und affektiven Denkweisen und Lernstile zu verstehen und wirksam einzusetzen, aber lasst uns nicht im Genpool rumpfuschen, indem wir genetische Marker verwenden, um bestimmte Babys zu vermeiden oder Schwangerschaften abzubrechen.

(Lasst uns die nicht-idiopathischen Ursachen der beeinträchtigenden Symptome von Autismus erforschen, so dass wir sie vermeiden können; aber das ist ein gänzlich anderes Thema.)

Ich bin also dafür, Entwicklungsfortschritte zu maximieren, aber ich denke, das als »Genesung« zu betrachten, erweist der Sache einen schlechten Dienst; und bin dafür, Beeinträchtigungen zu mildern, aber ich denke, dass als »Heilung« zu betrachten, tut der Sache einen schlechten Dienst; und ich bin dafür, die Ätiologie von Autismus zu erforschen, wenn die Erkenntnisse dafür verwendet werden, die Entwicklungsfortschritte zu maximieren und die Beeinträchtigungen zu mildern, aber ich denke, dass als »Prävention« zu betrachten, tut der Sache einen schlechten Dienst.

Und ich verstehe wirklich nicht, warum nicht mehr Leute ihre ideologischen Streitäxte niederlegen können und sich mir in der Mitte anschließen können.

Fußnoten

Anmerkungen

  1. Discrete Trial ist eine Lehrmethode, bei der eine Fähigkeit in möglichst kleine Schritte zerteilt wird, die dann mit die intensiven Drill und vielen Wiederholungen geübt werden. Wenn das Kind einen Teil richtig ausführt, wird es belohnt (positive Verstärkung). Discrete Trials werden Lovaas‹ ABA-Methode angewandt.
  2. O. Ivar Lovaas ist Begründer der sogenannten Applied Behaviour Analysis (ABA). Eine kritische Auseinandersetzung mit ABA bieten die Artikel »Fehlverhalten der Verhaltensanalytiker_innen – Ethische Anfechtung der Autismus-ABA-Industrie« von Michelle Dawson und »Heilt ABA Autismus?« von Prof. Morton Ann Gernsbacher.

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Phil Schwarz

Phil Schwarz ist Programmierer und lebt in Massachusetts. Er war Ende 30, als er mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde – folgend auf die Diagnose seines Sohnes. Phil Schwarz ist Vizepräsident der Asperger’s Association of New England (AANE).