Kein Mensch sein.
Ungefähr zu der Zeit als ich Präsidentin der Association for Psychological Science geworden bin, fing Wray Herbert, Direktor der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der APS, an, in seinem mittlerweile syndizierten Blog „Wir sind nur Menschen“ zu publizieren.
Ich will nicht so tun, als sei mir das Innere seiner Gedankengänge vertraut, doch ich schätze, dass Wray diesen Namen für sein Blog wählte, um unseren verschiedensten Kuriositäten, Exzentrizitäten und Neigungen viel Raum zu bieten. Wir können dies tun, wir können auch jenes tun, weil, na ja, wir sind doch schließlich Menschen.
Aber sind wir das? Sind wir uns alle einig, dass alle Menschen wirklich Menschen sind?
Der anonymer Traktat Disputatio Nova Contra Mulieres, Qua Probatur Eas Homines Non Esse (Neue Disputation gegen die Frauen zum Erweis, daß sie keine Menschen sind), zuerst publiziert im Jahr 1595, ist im Laufe des 17. und 18. Jhs. in Hülle und Fülle nachgedruckt worden.
In den 1860-er Jahren traten britische Anthropologen dafür ein, dass Schwarze eine minderwertige Spezies seien, eher mit Affen als mit Weißen vergleichbar, und daher für Sklaverei bestens geeignet. Im Nürnberger Prozess erklärte ein SS-General seine Loyalität gegenüber dem Holocaust mit simpler Behauptung, „Juden sind nicht einmal Menschen“.
Theologen des 16. Jhs., viktorianische Anthropologen und Nazis des 20. Jhs. sind nicht die einzigen, die diverse Gruppen von Menschen für affenähnlich bzw. nicht menschlich erachteten. Manche zeitgenössischen amerikanischen Psychologen sind dieses Verbrechens ebenso schuldig.
Vor wenigen Jahren – ich war auf einer Konferenz zum Thema ‚Sprache und Evolution’ -, hinterfragte jemand aus dem Publikum die These eines prominenten Kindersprache-Forschers und brachte ein Gegenbeispiel: Ein Aspekt in der Entwicklung der Kinder mit Williams-Syndrom passte nicht ganz in die Theorie des Wissenschaftlers. Der berühmte Forscher entgegnete schnell: „Oh, ich habe Kinder mit Williams-Syndrom gesehen. Die zählen nicht. Die sind nicht einmal Menschen. Die müssen einer völlig anderen Spezies angehören.“
Mit einem Augenzwinkern hat man eine ganze Personengruppe aus dem Menschengeschlecht getilgt. Ohne Widerrede hat man Mitglieder der menschlichen Spezies geopfert – um die Theorie zu retten. Und welches war dieses deutlich unmenschliche Verhalten, das manche Kinder mit Williams-Syndrom demonstrierten? Es war ihre Fähigkeit, einen außerordentlichen Wortschatz zu entwickeln, bevor sie die Fähigkeit erlangten, den Zeigefinger auszustrecken, um auf etwas zu zeigen.
Zugegeben, diese entmenschlichende Äußerung des Psychologen fiel in einer relativ frei fließenden Diskussion auf einer kleinen, nur für Eingeladene zugänglichen Konferenz. Die haarsträubende Behauptung wurde nicht einmal auf dem PowerPoint-Dia beleuchtet. Doch ähnliche Aussagen sind auf Buchseiten der Bestseller anderer Psychologen abgedruckt und fanden ihren Weg in die angesehensten wissenschaftlichen Fachzeitschriften unseres Faches.
Zum Beispiel, in der jüngsten Ausgabe „das bedeutende Buch des Jahres“ der New York Times, grenzte ein international gefeierter Psychologe autistische Menschen von anderen Menschen ab und ordnete sie „zusammen mit Robotern und Schimpansen“ ein. Das Erkennungsmerkmal bestehe laut dieses Psychologen darin, dass Menschen „eine Ausstattung angeboren sei, anderer Leute Überzeugungen und Absichten zu erkennen“, die – so sein Vorschlag – Roboter, Schimpansen und autistische Menschen inhärent vermissen.
Doch in Laboruntersuchungen, in denen das menschliche Verstehen der Absichten anderer Menschen getestet wurde, ist es nicht gelungen, autistische Menschen von nicht-autistischen zu trennen (Aldridge, Stone, Sweeney, & Bower, 2000; Carpenter, Pennington, & Rogers, 2001; Russell & Hill, 2001; Sebanz, Knoblich, Stumpf, & Prinz, 2005). In Labortests zum Verstehen von Überzeugungen anderer Menschen zu versagen, ist weder universell für autistische Menschen (Happe, 1995; Kleinman, Marciano, & Ault, 2001; Ozonoff, Rogers, & Pennington, 1991; Peterson, 2002) noch trifft es ausschließlich auf autistische Menschen zu (Benson, Abbeduto, Short, Bibler-Nuccio, & Mass, 1993; Miller, 2001; Peterson & Siegal, 1995; Rowe, Bullock, Polkey, & Morris, 2001; Saltzman, Strauss, Hunter, & Archibald, 2000; Tager-Flusberg, 2001).
Nichtsdestotrotz werden derartige Theorien in der populären Presse rekapituliert, um zu behaupten, „es ist als ob sie [autistische Menschen] den Kernaspekt des Menschseins nicht verstehen oder er ihnen fehlt ” (Falcon & Shoop, 2002). Bezöge sich dieses „die“ auf Mitglieder jeder anderen Minderheit, würden wir diese Aussage als Volksverhetzung bezeichnen.
Betrachten wir die Theorien eines anderen international gefeierten Psychologie-Forschers, die in einer weit verbreiteten Fachzeitschrift präsentiert worden sind. Nach der These, dass „kulturelles Lernen die einzig menschliche Form des sozialen Lernens“ sei, „die eine getreue Übertragung von Verhaltensweisen und Informationen unter Artgenossen ermögliche“, legen die Autoren dar, dass wie Schimpansen auch „autistische Kinder wenig oder keine Anzeichen eines kulturellen Lernens zeigen“.
Doch die Autoren stoßen auf einen ähnlichen Mangel an empirischen Beweisen, der sich in ihrem Eingeständnis am besten offenbart: „mit Sicherheit kann man festhalten, dass die überwiegende Mehrheit autistischer Kinder keine [spezifische Art des kulturellen Lernens] betreiben. Obwohl uns bewusst ist, dass keine Studien konkret nach [dieser Art des kulturellen] Lernens per se fragen…“
In diesem Fall retten die Autoren ihre These durch die Beobachtung, dass „ein stabiles und wiederkehrendes Ergebnis darin besteht, dass autistische Kinder ihre ganze Entwicklung hindurch signifikante Defizite in ihrer Fähigkeit zu Interaktion und Beziehungen mit Gleichaltrigen demonstrieren.“
Die Autoren haben Recht: Schwierigkeiten, „dem Entwicklungsniveau angemessene Beziehungen zu Gleichaltrigen“ zu entwickeln, ist wahrlich das Diagnosekriterium für Autismus nach DSM-IV. Doch gemäß dieser Logik kann jedes Diagnosekriterium aus dem DSM-IV für jede DSM-IV-Diagnose als Grundlage benutzt werden, Menschen, die diese Kriterien erfüllen, von den Menschen, die sie nicht erfüllen, abzugrenzen. Und wenn das Diagnosekriterium (zum Beispiel Leseschwäche, Schreibschwäche oder Erektionsstörung) auch noch auf eine nicht-menschliche Spezies zutrifft, kann es als Grundlage der Entmenschlichung dienen.
In einem kürzlich erschienenen Fachartikel, der ebenfalls mit dem Ziel verfasst wurde, „den entscheidenden Unterschied zwischen der menschlichen Kognition und der von
anderen Spezies“ darzustellen, sind autistische Menschen erneut von anderen Menschen aussortiert und bei den Menschenaffen angesiedelt worden.
Nach Bestätigung, empirische Literatur zeige, „Menschenaffen und Kinder mit Autismus seien eindeutig nicht für alle Aspekte absichtlichen Handelns blind“, legen die Autoren die Messlatte höher (“vorsätzliche Handlungen und Wahrnehmungen anderer zu verstehen, reicht für sich genommen nicht aus, um menschenähnliche soziale und kulturelle Aktivitäten zu erzeugen”), und pochen weiter auf ihrem Glauben, autistische Kinder ließen sich nicht sozial und kulturell auf andere ein wie menschliche Kinder“; sie „interagieren mit anderen Personen nicht in der für die Spezies typischen Art und Weise“. Ihr soziales Verhalten ist einfach nicht menschlich.
Warum werden Menschen entmenschlicht?
Laut Morton Deutsch, dem diesjährigen Empfänger des APS James McKeen Cattell Preises, werden Menschen dehumanisiert, wenn sie als Bedrohung wahrgenommen werden. Welche Bedrohung stellen Menschen mit Williams-Syndrom und autistische Menschen für die Fachpsychologen dar? Bedrohung für die Allgemeingültigkeit der wissenschaftlichen Theorien? Bedrohung für ihre Fähigkeit, menschliche Vielfalt zu akzeptieren?
Letzten Herbst hat ein Student der Duquesne-Universität gegen den Verhaltenkodex verstoßen, indem er seine Meinung, homosexuelles Verhalten sei „subhuman“, auf seiner Webpräsenz veröffentlichte.
Sollten nicht die Psychologen zu einem ähnlich hohen Verhaltenskodex verpflichtet werden?
Zusätzlich zu der Auflage, seine beleidigende Äußerung aus dem Internet zu entfernen, musste der Student von Duquesne einen 10-seitigen Aufsatz über den Respekt der Menschenwürde verfassen. Ich wünsche, manche Psychologen würden einen solchen Essay wenigstens lesen – wenn nicht selbst schreiben.
Quellen und Literatur
Zuletzt bearbeitet am 29.01.2022.
Morton Ann Gernsbacher ist Professorin an der Universität von Wisconsin–Madison und forscht zu Autismus und Psycholinguistik. Sie ist auch Mutter eines autistischen Sohnes.