Wir sind autistisch und das ist gut so.

Kaum begegnet man Autist*innen ohne Mobbing-Erfahrung, fast in jeder autistischen Biografie trifft man auf dieses düstere Kapitel. Autistische Kinder werden sehr oft gehänselt, so sehr sogar, dass das Gehänselt- oder Gemobbtwerden zum Merkmal des Phänotyps erhoben wurdeschreibt Professor Morton Ann Gernsbacher.

Natürlich werden nicht nur autistische Menschen gemobbt, aber sie erhalten im Gegensatz zu nicht-autistischen Personen weniger Unterstützung während und nach dieser traumatischen Erfahrung.

Das Wort Mobbing wurde erstmals vom Ethnologen Konrad Lorenz (Anfang der 70er Jahre) für Angriffe verwendet, die Gruppen von Tieren gegen ein einzelnes Tier praktizierten, um es zu verscheuchen. Von dort gelangte es durch Peter-Paul Heinemann (1972) in die Beschreibung aggressiven Verhaltens von Kindern auf Schulhöfen, durch die einzelne Kinder bisweilen in den Suizid getrieben wurden.

(Quelle)

Gemobbt wird überall: im Kindergarten und Schule, an der Uni, im Büro und in der Nachbarschaft, außerdem in Vereinen und anderen Organisationen, in Internet-Foren, in Heimen und in Krankenhäusern – und nicht nur dort.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich Lehrkräfte, Eltern, Kolleg*innen, Vorgesetzte und selbst die Therapeut*innen der Opfer häufig weigern, das Vorliegen des Mobbings anzuerkennen – schließlich würde es sie unter Zugzwang setzen und von ihnen Intervention abverlangen, was sicher mühsam und nervenaufreibend ist. Eine viel bequemere und regelmäßig praktizierte Lösung besteht darin, dem Mobbing-Opfer zum besseren Benehmen – das heißt mehr Anpassung, Assimilation oder Unterwerfung – zu raten, was impliziert, dass Gemobbte an ihrem Gemobbtwerden selbst schuld seien.

Der Gemobbte beschwert sich vielleicht bei seinen Vorgesetzten über die Mobber. Oft kommt von dort jedoch keine hilfreiche Reaktion, im Gegenteil: Viele Vorgesetzte finden, dass die Mitarbeitenden ihre Konflikte unter sich ausmachen sollen und finden die Beschwerden lästig. Der Gemobbte fällt dadurch bei seinen Vorgesetzten negativ auf und wird vielleicht zum Querulanten abgestempelt.

Vielleicht wissen die Vorgesetzten auch einfach nicht, wie sie das Mobbing effektiv unterbinden können.

Doch durch das Mitschwimmen im Strom der Mobbenden macht man sich zu ihrem Komplizen und signalisiert dem Mobbing-Opfer die verheerende Botschaft: der Mob hat immer Recht.

Aber niemand ist selbst schuld am eigenen Gemobbtwerden. Es gibt nichts, womit Mobbing gerechtfertigt werden kann, und niemand ist gegen Mobbing gewappnet. Mit anderen Worten: Mobbing kann jede*n treffen.

Entgegen landläufiger Meinung sind die Betroffenen keineswegs schwache, häufig kranke oder inkompetente Persönlichkeiten. Im Gegenteil: Gerade die Fähigkeiten, Repressalien zu widerstehen, Autorität Widerstand zu leisten oder peinlich genau zu arbeiten und ein Immer-zur-Stelle-sein zeichnen die Opfer von Mobbing überproportional häufig aus.

Was ist eigentlich Mobbing?

Mobbing ist nichts anderes als Anpöbeln, aber nicht gleichzusetzen mit einem Konflikt im üblichen Sinn. Mobbing bedeutet, dass jemand fortgesetzt schikaniert und geärgert wird – das kann vom Vorenthalten von Informationen über Beschimpfungen bis hin zu körperlicher Gewalt reichen. Üblicherweise gelten solche Handlungen als aggressiv, feindselig, destruktiv und unethisch.

Mobbing bezeichnet eine regelmäßige destruktive Kommunikation mit dem Ziel, den Adressaten zu beschädigen und zu vertreiben. Hintergrund ist meist ein unbewusster oder absichtlich verdrängter Konflikt, der auf diese Weise ausagiert wird. Diese Form der negativen Konfliktbewältigung wird durch eine grundsätzlich unfaire Organisationskultur begünstigt, in der es zum Standard gehört, Konflikte unter den Teppich zu kehren, mit dem Ellbogen für die persönliche Karriere oder die Durchsetzung von Zielen zu sorgen, mit Seilschaften und Intrigen zu führen und die Organisation dadurch zu steuern.

(Quelle)

Alle Mobbing-Definitionen sind sich einig darin, dass nur dann von Mobbing gesprochen werden kann, wenn es sich um ein Verhaltensmuster handelt und nicht um eine einzelne Handlung: Die Handlungsweisen sind systematisch, d.h. sie wiederholen sich beständig über einen längeren Zeitraum. Mobbing ist ein immer wieder auftretendes Verhaltensmuster, keine Einzeltat. Sachbezogene Konflikte am Arbeitsplatz stellen noch kein Mobbing dar.(Quelle) Auch ein einzelner Streit ist noch kein Mobbing.

Mobbing-Situationen sind von ungleichen Machtverhältnissen geprägt; die Beteiligten haben unterschiedliche Einflussmöglichkeiten auf die jeweilige Situation. Jemand ist jemand anderem unter- bzw. überlegen. Schließlich kristallisiert sich ein Opfer heraus. Wegen der ungleichen Machtverhältnisse hat es Schwierigkeiten, sich zu verteidigen.

Unter den verschiedenen Definitionen von Mobbing stammen die bekanntesten von Heinz Leymann, der als Begründer der modernen Mobbingforschung gilt:

Negative kommunikative Handlungen (von einer Person oder mehreren Personen) die gegen eine Person (oder mehrere Personen) gerichtet sind und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer bestimmen

(Heinz Leymann: Mobbing, Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann)

Unter Mobbing wird eine konfliktbelastete Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen verstanden, bei der die angegriffene Person unterlegen ist (1) und von einer oder einigen Personen systematisch, oft (2) und während längerer Zeit (3) und mit dem Ziel und/oder dem Effekt des Ausstoßes aus dem Arbeitsverhältnis (4) direkt oder indirekt angegriffen wird und dies als Diskriminierung empfindet.

(Heinz Leymann: Der neue Mobbingbericht)

Als Mobbing wurde ein Konflikttyp bezeichnet, der schnell eskaliert und zu sehr großen Schäden bei der betroffenen Person, bei den betroffenen Betrieben, sowie zu unerhört großen gesellschaftlichen Kosten im Kranken- und Rentenwesen führen kann. Eine Person ist an ihrem Arbeitsplatz gemobbt, wenn sie im Konflikt mit Kollegen oder Vorgesetzten oder beiden in eine unterlegene Position gekommen ist und auf systematische, direkte oder indirekte Weise, sehr oft und während langer Zeit einer oder mehreren von 45 kränkenden Handlungen ausgesetzt ist. Das läuft nach längerer Zeit auf einen Zustand hinaus, der zu psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden führen kann. Bei den schwedischen Erhebungen wurde die Definition mit folgenden Maßwerten ausgestattet: Mindestens eine der 45 Handlungen, mindestens einmal die Woche, mindestens ein halbes Jahr lang.

Die Liste der Mobbing-Handlungen nach Leymann umfasst 45 Punkte aus den Bereichen:

  • Angriffe auf die Möglichkeit, sich zu äußern
  • Angriffe auf die sozialen Beziehungen
  • Angriffe auf das soziale Ansehen
  • Angriffe auf die Qualität der Berufs- und Lebenssituation
  • Angriffe auf die Gesundheit

Erst der Prozess des Quälens lässt diese Menschen auf eine Art und Weise reagieren, die im Nachhinein die Sicht des Aggressors bestätigen. Bricht die gequälte Person etwa in Tränen aus oder kommt es zu einem Ausbruch des Zorns, so kann der Täter zufrieden sagen: Na bitte, ich hab´s doch immer gewusst, dass der verrückt ist…. So wird der Persönlichkeit angelastet, was erst als Folge des Mobbings entsteht und der Gemobbte wird zu dem, was der Mobbende aus ihm machen will.

Mobbing und Bossing

Am Arbeitsplatz unterscheidet man zwischen Mobbing, das von Kolleg*innen ausgeht, und solchem, dass von einer*m Vorgesetzten ausgeht. Letzteres wird in der Literatur häufig als Bossing bezeichnet.

Der Psychoterror, der von in der betrieblichen Hierarchie höher platzierten Personen ausgeübt wird, kommt in Deutschland in 40 Prozent der Fälle vor, während in nur zwei Prozent aller Fälle ein Vorgesetzter von seinen Untergebenen gemobbt wird. Hinzu kommt horizontales Mobbing (horizontal bullying), d. h. der Betroffene wird von hierarchisch gleichgestellten Kollegen gemobbt. Mehr als 20 Prozent aller Mobbingopfer bezeichnen einen Kollegen als Täter. Etwa gleich viele Betroffene geben an, dass das Mobbing von einer Gruppe von Kollegen ausgeht. Etwas weniger als 15 Prozent aller Mobbing-Opfer in Deutschland sind davon überzeugt, dass sie sowohl von ihrem Vorgesetzten als auch von Kollegen gemobbt werden.

(Quelle)

Mobbing und Bossing liegen keineswegs in irgendwelchen Defiziten oder Fehlverhalten des Opfers begründet. Eher ist das Gegenteil der Fall:

Bossing-Opfer sind in der Regel keine Drückeberger oder Faulpelze, sie sind fleißig und kreativ. Führungskräfte und Kollegen fühlen sich dadurch bedroht. Auch Umstrukturierungen und ein mieses Betriebsklima führt zum Bossing. Die Opfer sind quasi die ausgewählten Sündenböcke und Blitzableiter für den Frust von Chefs und Kollegen. Nachfragen zu Arbeitsabläufen können ebenfalls zum Bossing führen.

Warum wird gemobbt?

Am verbreitetsten ist unter Forschern die Annahme, dass strukturelle Faktoren Mobbing auslösen. Äußerst schlechte Arbeitsorganisation und Produktionsmethoden, wie etwa unklare Zuständigkeiten, Monotonie, Stress, allgemeine Mängel in der Kommunikations- und Informationsstruktur, ungerechte Arbeitsverteilung, Über- und Unterforderung, widersprüchliche Anweisungen, mangelnder Handlungsspielraum oder Kooperationszwänge, gelten als Ursachen für Mobbing. Begünstigende Faktoren, wie etwa „Wasser predigen und Wein trinken“ seitens des Managements, Konkurrenz unter den Mitarbeitern oder eine Organisationskultur, die keine hemmenden Mechanismen gegen Mobbing hat, kommen hinzu.

Tiefgreifende organisatorische Veränderungen gelten ebenfalls als Auslöser für Mobbing. Das Risiko, gemobbt zu werden, ist in Organisationen, in denen technologischer Wandel oder eine Änderung der Eigentümerstruktur stattfinden, deutlich größer.

Gewerkschaften und Forscher berichten, dass einige Unternehmen Mobbing als Strategie verwenden, um ihre Mitarbeiter zur Kündigung zu bewegen.

(Quelle)

In der Regel stimmt in Betrieben, in denen gemobbt wird, grundsätzlich mit dem Betriebsklima etwas nicht. Mit den Mobbern zu reden ist meistens sinnlos, weil ihnen die Tragweite ihres Verhaltens nicht bewusst ist. Sie bewerten ihr Verhalten als fair; eine offene Auseinandersetzung ist ihnen zu riskant. Sie haben keine moralischen Bedenken, es stehen nur ihre eigenen Interessen im Vordergrund. Sie fühlen sich durch das Opfer gefährdet oder beeinträchtigt und versuchen von ihrem eigenen Unvermögen abzulenken.

Am Mobbing beteiligt sind im Allgemeinen nicht nur die Mobber und ein Opfer, sondern weitere Personen, die wegsehen, die das Mobbing ignorieren und dadurch zulassen:

Mobbing kann sich nur entwickeln, wenn Mobbing sich entwickeln darf, wenn Führungskräfte, vorgesetzte Leitungsebenen bei Problemen und Konflikten wegschauen, sich nicht darum kümmern und den Konflikt weiterlaufen lassen und keine oder nicht ausreichende Verantwortung wahrnehmen. Solch ein Nichtstun wirkt sich in aller Regel als Billigung und Zulassung aus und unterhält und beschleunigt den Mobbingprozess. Letzteres gilt in gleicher Weise für zögerlich oder nicht handelnde Mitarbeitervertretungen, also z.B. Betriebs-Personalräte.

(Quelle, im Archiv)

Hilfe bei Mobbing?

Viele Ärzte und Psychologen kennen sich mit der Materie nicht aus und können deswegen oft nicht verstehen, wie jemand an Problemen am Arbeitsplatz erkranken kann. Die Folge ihrer Unkenntnis sind Fehldiagnosen wie „Kindheits-Neurose“, „Wechseljahr-Depression“ und Ähnliches. Die Betroffenen machen dabei die Erfahrung, dass von dieser Seite auch keine Hilfe kommt. (Martin Resch: Wenn Arbeit krank macht)

Zudem haben einige Ärzten und Psychologen die Einstellung, dass Mobbing gegen Autist*innen normal und selbstverständlich sei, und sehen es als Folge von Autismus, die autistische Mobbing-Opfer als persönliches Schicksal hinzunehmen hätten. Vor diesem Hintergrund richten sie ihre Behandlung nicht darauf, traumatische Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Machtmissbrauch oder Gewalt als solche zu erkennen, zu verarbeiten und Strategien der Abwehr zu entwickeln.

Vielmehr raten sie von Mobbing betroffenen autistischen Menschen, sich an die Attacken als eine Art Naturgewalt zu gewöhnen und ihr Anderssein als Ursache des Mobbings zu sehen. Trifft man auf diese kontraproduktive Haltung, sollte man nicht zögern und die Behandlung wechseln oder beenden, eher sie dem ohnehin in Mitleidenschaft gezogenen Selbstvertrauen und der Selbstachtung schwer reparierbare Schäden zufügt.

Einige Mobbing-Fachleute raten generell davon ab, sich aufgrund des Mobbings in eine Psychotherapie zu begeben, um dadurch das Gefühl, man sei selbst die Ursache des Mobbings und müsse an sich etwas ändern, nicht noch mehr verfestigen zu lassen. Mobbingberatungsstellen, professionelle Kommunikationstrainer*innen und Coaches helfen Mobbing-Opfern, verwirrende Mobbing-Geflechte zu verstehen und Kommunikationstechniken zu erlernen, um aus dem Hamsterrad des Mobbings auszubrechen.

Speziell für Autist*innen gibt es solche Angebote derzeit noch nicht. Bestehende Anlaufstellen, auch wenn es darunter sehr gute gibt, sind nicht immer barrierefrei und mit speziellen Erfahrungen autistischer Mobbing-Opfer wenig vertraut.

Weitere Infos und Links

Bücher über Mobbing

Ein Buch über (Asperger-)Autismus und Mobbing (auf Englisch)

Autismus & Mobbing

Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus