Wir sind autistisch und das ist gut so.

Was ist der Unterschied zwischen Autismus und einer psychischen Krankheit?

70% der Menschen im Autismus-Spektrum haben mindestens eine psychische Krankheit.

Als psychische Krankheit bezeichnet man eine Reihe von emotionalen, psychologischen oder psychiatrischen Problemen. Psychische Krankheiten können jeden Menschen zu jeder Zeit betreffen und oft durch eine Behandlung überwunden werden.

Autismus ist angeboren und bleibt ein Leben lang bestehen. Es ist ein neurologischer Unterschied, der bestimmte Stärken und Schwächen mit sich bringt. Autismus ist keine Krankheit, sondern eine Behinderung.

Psychische Probleme bei autistischen Menschen

Autist*innen können aber genauso wie nicht-autistische Menschen psychische Krankheiten haben. Das kommt sogar häufiger vor als bei nicht-autistischen Menschen.

Besonders häufig sind:

  • Angststörungen,
  • Zwangsstörungen, und
  • Depressionen.

Zwischen 50 und 70% aller Menschen im Autismus-Spektrum haben eine Angststörung, und ein ebenso hoher Anteil hat eine Depression.

7 von 10 Autist*innen haben psychische Probleme. Die meisten bekommen nicht die Unterstützung, die sie brauchen.

Trotzdem werden psychische Erkrankungen bei autistischen Menschen oft übersehen. Zum Beispiel, weil

  • die Symptome für Merkmale von Autismus gehalten werden,
  • die Symptome andere sein können als bei nicht-autistischen Menschen, und
  • die diagnostischen Methoden nicht für autistische Menschen ausgelegt sind (vielen Menschen im Autismus-Spektrum fällt es schwer mitzuteilen, wie sie sich fühlen).

Die psychischen Erkrankungen autistischer Menschen dürfen nicht ignoriert werden.

Psychische Erkrankungen können die Lebensqualität autistischer Menschen stark beeinträchtigen. Für autistische Menschen und ihre Familien ist ihre psychische Gesundheit sehr wichtig.

Aber: Nur 3 Prozent der Autismus-Forschung beschäftigt sich mit der psychischen Gesundheit autistischer Menschen.

Deshalb ist das Wissen darüber, wie man autistische Menschen mit psychischen Problemen am besten unterstützen kann, lückenhaft.

Psychologische und psychiatrische Fachkräfte denken oft, dass das, was den meisten Menschen hilft, auch autistischen Menschen hilft. Aber so funktioniert das nicht:

  • Therapien müssen vielleicht angepasst werden.
  • Medikamente haben manchmal keine oder sogar gegenteilige Wirkung.
  • Autistische Menschen brauchen oft darüber hinausgehend weitere Unterstützung im Alltag.

Meine Erfahrung ist, dass Organisationen ihre Unterstützungsangebote sich oft entweder an autistische Menschen richten oder an psychisch Kranke – und vor den jeweils anderen scheinen sie Angst zu haben.

Marian

Andere psychische Probleme

Angststörungen, Zwangsstörungen und Depressionen sind nur einige der psychischen Probleme, die Menschen im Autismus-Spektrum erleben können. Prinzipiell können autistische Menschen jede psychische Krankheit haben, die nicht-autistische Menschen auch haben können.

Zum Beispiel sind Posttraumatische Belastungsstörungen bei Menschen im Autismus-Spektrum bisher relativ wenig erforscht. Angesichts der zahlreichen negativen Erlebnisse, die autistische Menschen im Laufe ihres Lebens machen, wäre es wichtig zu erforschen, wie sie damit zurechtkommen.

Jede autistische Person ist anders. Die Unterstützung muss auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein.

Ein weiteres Thema, das von der Forschung bisher völlig ignoriert wird, von autistischen Menschen aber seit Jahren immer wieder angesprochen wird, ist der autistische Burnout: Jahrelange Anpassung und »über die eigenen Grenzen gehen« führen dazu, dass irgendwann nichts mehr geht. Dieser Burnout ist oft begleitet von Angststörungen oder Depressionen; er wird meist nicht als Burnout erkannt. Für die Umgebung ist oft nicht nachvollziehbar, wie es dazu kam – die Anstrengungen autistischer Menschen sind von außen oft nicht erkennbar.

Für Autist*innen kann es hilfreich sein, sich über diese Aspekte zu informieren, um besser zu verstehen, was mit ihnen passiert.

Warum haben so viele autistische Menschen psychische Probleme?

Ich denke, dass die Angststörungen und Depressionen, die ich im Laufe der Jahre erlitten habe, das Ergebnis meines autistischen Geistes sind, der mit einer neurotypischen Welt zurechtkommen muss.

Jon, Autist

Manche Forscher*innen vermuten, dass es dafür einen neurologischen Grund gibt: Die Gehirne autistischer Menschen, so meinen sie, seien einfach anfälliger für psychische Krankheiten.

Sie nennen kognitive Eigenschaften wie schlechte exekutive Funktionen, Schwierigkeiten in sozialen Verständnis, Schwierigkeiten mit Ungewissheiten, Emotionsregulation, und sensorische Sensitivitäten.

Ich glaube das nicht.

Natürlich spielt unsere Neurologie eine Rolle, aber nur im Zusammenspiel mit den sozialen Erfahrungen, die wir machen: Schwierigkeiten im sozialen Verständnis führen in einer wohlwollenden Umgebung wahrscheinlich nicht zu psychischen Problemen. Aber wenn sie dazu führen, dass man zum Beispiel gemobbt wird, keinen Job findet, und feststellt, dass andere Leute, die man für Freunde gehalten hat, einen ausnutzen, können Angststörungen und Depressionen die Folge sein.

Negative Lebenserfahrungen

Autistische Menschen erfahren in ihrem Leben viel soziale Ablehnung und Ausgrenzung. Viele werden oder wurden gemobbt, sind einsam und unverstanden. Ihre Eigenheiten, zum Beispiel Stimming oder eine ungewöhnliche Art der Interaktion, führen oft zu negativen Rückmeldungen. Um akzeptiert zu werden, müssen autistische Menschen sich oft verstellen. Das führt zu einem verminderten Selbstwertgefühl. Autistische Menschen sind auch überdurchschnittlich von Armut und Langzeit-Arbeitslosigkeit betroffen, und sie werden häufiger Opfer sexueller Gewalt. All das sind Risikofaktoren für psychische Krankheiten.

Unter diesen Umständen wäre es erstaunlich, wenn autistische Menschen keine höheren Raten psychischer Krankheiten hätten.

Wenn wir diese Risikofaktoren bei nicht-autistischen Menschen erkennen, warum erkennen wir sie bei autistischen Menschen nicht an?

2016 kam eine Studie zum Ergebnis, dass autistische Kinder mit traumatischen Erlebnissen viel häufiger Symptome einer Depression hatten. Eine daran anschließende Langzeitstudie zeigte, dass autistische Kinder, die Opfer von Mobbing geworden waren, in der Pubertät häufiger depressive Symptome hatten.

Kürzlich erschien eine Studie, die zwei Ergebnisse hatte:

  • Autistische Erwachsene machen mit höherer Wahrscheinlichkeit zahlreiche negative Erfahrungen im Leben, darunter Schwierigkeiten, einen Job zu finden und zu behalten, finanzielle Probleme und häusliche Gewalt.
  • Es gab einen Zusammenhang zwischen negativen Lebenserfahrungen und höheren Raten an Angststörungen und Depressionen sowie zu der niedrigeren Lebenszufriedenheit autistischer Menschen im Vergleich zu nicht-autistischen Menschen.

Warum ist das wichtig?

Natürlich will man Angststörungen und Depressionen vermeiden!
Und wenn man annimmt, dass die autistische Neurologie einfach anfälliger ist für psychische Krankheiten, ist die übliche Schlussfolgerung, zu versuchen, diese Neurologie zu verändern (sprich: Autismus zu »heilen«).

Wenn man versteht, dass autistische Menschen häufiger Angststörungen und Depressionen haben, weil sie wesentlich mehr negative Erfahrungen im Leben machen, kommt man zu einer ethischeren Forderung: Wir als Gesellschaft müssen vermeiden, dass autistische Menschen diese negativen Erfahrungen machen.

Das bedeutet zum Beispiel:

  • Wir müssen Mobbing und Gewalterfahrungen verhindern, so gut es geht.
  • Wir müssen es autistischen Menschen ermöglichen, positive soziale Erfahrungen zu machen.
  • Wir müssen erwachsene Autist*innen im Beruf und im Alltag besser unterstützen.

Autistisch zu sein in einer nicht-autistischen Welt kann also bestimmte Probleme mit sich bringen, und diese können zu psychischen Krankheiten führen. Aber nichts davon ist unveränderbar.

Ich werde im Folgenden aus autistischer Sicht auf einige dieser Probleme eingehen und neurotypischen Menschen Ratschläge geben, was sie tun können.

Isolation, Unverständnis und Empathie

Autistisch zu sein, kann eine Person von ihren nicht-autistischen Altersgenossen isolieren, weil ihre Kommunikation und ihre Interessen unterschiedlich sind. Sie erleben die Welt unterschiedlich und haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie Zeit mit anderen Menschen verbringen wollen.

Autistischen Menschen mangelt es nicht an Empathie, aber es ist viel schwieriger, sich in Menschen einzufühlen, deren Erleben sich deutlich von dem eigenen unterscheidet. Das gilt für autistische und nicht-autistische Menschen gleichermaßen, aber beide haben meistens mit nicht-autistischen Menschen zu tun. Das führt dazu, dass es für autistische Menschen schwieriger ist, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Und es bedeutet, dass sich viele autistische Menschen sehr isoliert fühlen, nicht verstanden werden und nicht so akzeptiert werden, wie sie sind.

Sie können sogar ein Trauma haben, weil sie gemobbt, geächtet, missverstanden oder ausgelassen wurden. Unausgesprochene soziale Regeln und nonverbale Kommunikation wie Körpersprache können für viele autistische Menschen ebenfalls sehr verwirrend sein, was zu Schwierigkeiten in sozialen Situationen und zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von Fehlinterpretationen führt.

Wie kann ich helfen?

  • Viele Autist*innen finden es wertvoll, sich mit Menschen zu treffen, die die Welt ähnlich erleben wie sie – also andere autistische Menschen. Auch Verbindungen zu Menschen, die ähnliche Interessen haben wie sie, können positiv sein. Solche Kontakte können ihr Gefühl der Isolation verringern, können ihnen helfen, sich selbst besser zu verstehen und sich mit anderen Menschen verbundener zu fühlen.
  • Das kann schwierig sein, insbesondere wenn es keine geeigneten Gruppen in der Nähe gibt und das Reisen eine Herausforderung darstellt. Online-Communities und auch das Lesen von Büchern und Blogs autistischer Autor*innen können ebenfalls hilfreich und ein guter Ausgangspunkt sein.
  • Nicht-autistische Menschen können versuchen, eine Beziehung zu einer autistischen Person auf der Grundlage ihrer Interessen und unter Berücksichtigung der Unterschiede aufzubauen. Viele autistische Menschen wünschen sich soziale Kontakte, auch wenn diese oft sehr anstrengend für sie sind.
  • Es ist wichtig, dass die Person sich sicher fühlt, dass sie sie selbst sein darf, ihre eigenen Grenzen definiert und sagt, wann sie Zeit für sich allein braucht. Viele autistische Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens damit, sich besser an die Erwartungen der Gesellschaft anzupassen und verwenden viel zusätzliche Energie darauf, sich in einer Welt zurechtzufinden, die für nicht-autistische Menschen gemacht wurde.
    • Versuche, Wege zu finden, um autistische Menschen in der Mitte zu treffen.
    • Rede direkt über soziale Erwartungen und Grenzen.
    • Es kann auch helfen, über das unterschiedliche Erleben zu sprechen, um Wege zu finden, Missverständnisse und andere Probleme zu vermeiden.
    • Generell hilft es, ehrlich und offen und auf Augenhöhe miteinander zu sprechen.
  • Manchen autistischen Menschen hilft es, wenn jemand mitkommt zu Veranstaltungen oder Freizeitaktivitäten, und ihnen dort ein bisschen hilft, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Intensiver Fokus und Grübelei

Viele autistische Menschen haben die Fähigkeit, sich sehr intensiv auf etwas zu konzentrieren, zum Beispiel auf ein bestimmtes Interessengebiet. Es kann schwierig sein, innezuhalten und den Fokus der Aufmerksamkeit zu wechseln.

Diese Interessen können erfüllend und manchmal sehr produktiv sein. Aber die Kehrseite dieses intensiven Fokus, dass autistische Menschen manchmal dazu neigen, lange über Sorgen oder Unsicherheiten zu grübeln. Viele beschreiben, dass sie ihre Gedanken nicht »abzuschalten« können, und deshalb Probleme beim Einschlafen haben oder sich nicht entspannen können.

Diese Probleme tauchen meistens dann auf, wenn es einer Person nicht gut geht, und die Gedanken negativ oder beunruhigend sind. Die Grübelei kann zu Depressionen und Angstzuständen beitragen und äußerst belastend sein.

Wie kann ich helfen?

  • Es kann hilfreich sein, wenn die Person, die sich Sorgen macht, ihren Fokus auf etwas richtet, das sie für interessant und unterhaltsam hält. Es lohnt sich herauszufinden, was sie in Zeiten, in denen sie es braucht, auch aufnehmen kann. Dieses Wechseln der Aufmerksamkeit kann für Autist*innen aber schwierig und sogar schmerzhaft sein, besonders dann, wenn es als Eingriff empfunden wird. Druck ist deshalb kontraproduktiv.
  • Manchmal grübeln autistische Menschen über eine bestimmte Sorge oder Unsicherheit. Dann kann es helfen, herauszufinden, was sie am meisten beunruhigt oder unsicher macht, und ob es neue oder genauere Informationen gibt, durch die sie sich sicherer fühlen können.
  • Es kann auch hilfreich sein, gemeinsam mit der Person darüber nachzudenken, welche Aspekte der Situation sie kontrollieren kann, was sie nicht kann und ob sie etwas tun kann, um sich mehr Kontrolle über die Situation zu spüren. Dabei kann es zum Beispiel darum gehen, mögliche Stressfaktoren zu erkennen und einen Plan zu machen, wie man ihnen begegnen kann.
  • Der intensive Fokus bedeutet auch, dass sich autistische Menschen sehr für ihre Interessen und Leidenschaften begeistern und es lieben, sich damit zu beschäftigen. Für die psychische Gesundheit einer Person ist es von entscheidender Bedeutung, ihren Leidenschaften nachgehen zu können, wie ungewöhnlich sie auch sein mögen.

Instabilität und Kontrolle

Selbst für nicht-autistische Menschen kann die Welt kann manchmal sehr unvorhersehbar und verwirrend sein.

Für Menschen, die

  • es schwierig finden, vorherzusagen, wie andere reagieren,
  • sensorisch sehr sensibel sind, oder
  • Ängste haben,

kann ein Mangel an Informationen, an Gewissheit und Routine kann noch destabilisierender sein.

Wie kann ich helfen?

  • Es kann sinnvoll sein, herauszufinden, in welchen Aspekten eine Person Gewissheit oder die Kontrolle über eine unsichere Situation benötigt – sind es zum Beispiel bestimmte sensorische Aspekte, Fragen zum Ablauf oder gibt es Unsicherheiten in sozialer Hinsicht?
  • Es kann auch sehr hilfreich sein, dem Einzelnen zu versichern, dass es keine dummen Fragen gibt und dass es in Ordnung ist, um Klärung oder weitere Details zu bitten.
  • Ein Plan oder eine feste Routine kann auch für viele autistische Menschen nützlich sein, aber wenn die Routine von anderen auferlegt wird, kann das das Gefühl verstärken, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Eine Person dabei zu unterstützen oder zu ermutigen, zu klären, was wann und wie zu tun ist, und einen eigenen Plan aufzustellen, kann viel stärkender und stabilisierender sein.
  • Es ist auch wichtig, über die vielen extrem destabilisierenden Dinge nachzudenken, die eine Person beunruhigen können, insbesondere wenn sie wenig Geld oder ein unsicheres Einkommen hat. Angst und Unsicherheit über einen stabilen Wohnort, ein verlässliches Einkommen, angemessene Unterstützung usw. können sehr anstrengend sein. Es kann für eine autistische Person hilfreich sein, Zugang zu eine*r erfahrenen Anwält*in oder Mentor*in zu haben, der beim Navigieren und potenziellen Beheben dieser Ungewissheiten helfen kann.

Meltdowns und Shutdowns

Einige autistische Menschen erleben Meltdowns oder Shutdowns. Das sind an sich keine psychischen Gesundheitsprobleme, können aber dazu beitragen, dass man welche bekommt, oder dass sie sich verschlechtern, wenn man schon welche hat.

Meltdowns und Shutdowns können durch sensorische Überlastung, Angstzustände, Überlastung, soziale Konflikte, plötzliche unerwartete Planänderungen oder eine Reihe anderer Ursachen verursacht werden. Meltdowns werden normalerweise als ein Ausbruch überwältigender Emotionen beschrieben, die die Form von Wut, Weinen, Schreien und manchmal Selbstbeschädigung annehmen können. Meltdowns sind sehr belastend und die Person, die sie erlebt, hat sehr wenig Kontrolle darüber.

Shutdowns werden manchmal als »stille Zusammenbrüche« bezeichnet. Innen kann einem Meltdown sehr ähnlich sein, von außen sieht es ganz anders aus: Die Person zieht sich zurück, ist extrem erschöpft und reagiert kaum auf ds, was um sie herum vorgeht. Möglicherweise fällt es ihr auch schwer, sich zu verständigen oder sich zu bewegen.

Burnout ist eine umfassendere, langfristige Erfahrung, die auf eine sehr anstrengende Zeit folgen kann. Dies kann dazu führen, dass eine Person Schwierigkeiten mit Dingen hat, die sie zuvor erledigen konnte, wie zum Beispiel Selbstpflege, Arbeit oder soziale Kontakte. Die vollständige Genesung kann einige Zeit in Anspruch nehmen.

Meltdowns, Shutdowns und Burnout können Angst machen, wenn man sie nicht versteht. Eine Person, die nicht weiß, was sie da gerade erlebt, hat vielleicht Angst um ihre geistige Gesundheit. Und auch von außen werden sie manchmal als Teil weitaus schwerwiegenderer psychischer Probleme missverstanden.

Langzeit-Burnout wird oft von Depressionen und Angststörungen begleitet und kann auch zu körperlichen Gesundheitsproblemen beitragen.

Wie kann ich helfen?

Wenn du mit einer autistischen Person zusammen sind, die einen Meltdown erlebt, kannst du folgendes tun:

  • Ignoriere den Meltdown nicht. Versuche nicht, »noch schnell« zu erledigen, was ihr geplant habt.
  • Jetzt ist auch nicht die richtige Zeit für Fragen oder Bedenken. Sei ruhig und beruhigend, nimm dir Zeit und höre zu, was die Person brauchen. Einige können möglicherweise nicht mehr mündlich kommunizieren, wenn sie sich in einem Meltdown befinden, auch wenn sie normalerweise sehr artikuliert sind.
  • Hilf der Person, wenn nötig und möglich, an einen sicheren und ruhigen Ort zu gelangen, fern von hellen Lichtern, lauten Geräuschen und anderen Personen.
  • Ein Meltdown kann sehr beunruhigend sein, aber denk daran, dass es für die Person, die sie erlebt, belastender ist. Viele kämpfen auch mit Scham- oder Schuldgefühlen nach dem Zusammenbruch. Wenn andere alarmiert reagieren oder sich über sie lustig machen, können diese noch schlimmer sein.
  • Es kann manchmal hilfreich sein, die möglichen Auslöser zu identifizieren und zu herauszufinden, was zur Beruhigung beitragen kann. Das kann die Art der Umgebung sein, zum Beispiel ein abgedunkelter Raum, die Verwendung von geräuschunterdrückenden Kopfhörern oder bestimmte Arten von Musik oder Videos, die die Person als beruhigend empfindet.
  • Stimming kann für autistische Menschen sehr nützlich sein, um sich selbst zu regulieren. Stimming kann eine Vielzahl von Dingen umfassen, zum Beispiel Schaukeln, und Streicheln bestimmter Texturen, oder das Betrachten von bunten Lichtern. Deshalb sollte man Stimming nie unterbinden auch nicht außerhalb von Meltdowns). Wenn man weiß, dass die Person gern bestimmte Gegenstände zum Stimming benutzt (zum Beispiel Chewies oder Fidget Spinner) kann es hilfreich sein, diese zur Hand zu haben.
  • Manchmal kann sich eine autistische Person während eines Zusammenbruchs verletzen. Es ist wichtig zu erkennen, dass das ein (in der Regel unkontrollierter) Versuch sein kann, den quälenden Empfindungen des Meltdowns entgegenzuwirken oder sie zu lindern. Es kann hilfreich sein, zu versuchen, die Handlungen der Person auf etwas Sichereres umzuleiten oder ihre Umgebung sicherer zu machen – zum Beispiel ein Kissen oder eine Jacke unter ihren Kopf zu legen.
  • Du solltest die Person dabei aber nicht berühren. Für viele autistische Menschen sind plötzliche Berührungen unangenehm bis schmerzhaft, und im Meltdown ist das noch viel mehr so. Eine Berührung ist im Allgemeinen in Ordnung, wenn du die Person gut kennst und sie der Berührung ausdrücklich zustimmt. Wenn du die Person nicht kennst, berühre sie lieber nicht, es sei denn, sie fordert dich dazu auf.
  • Falls man eine Gewichtsdecke zur Hand hat, kann das auch helfen. Viele autistische Menschen berichten, dass der Druck durch etwas Schweres auf ihrem Körper ihnen hilft, sich zu beruhigen. Manche Menschen verwenden auch Gewichtswesten und ähnliches.

Shutdowns sehen in der Regel weniger dramatisch aus als Meltdowns, können jedoch für den Einzelnen genauso belastend sein. Hier können ähnliche Strategien helfen wie bei Meltdowns.

Bei Meltdowns, Shutdowns und Burnout benötigt die Person eine angemessene ruhige Erholungszeit. Es könnte sich lohnen, sich mit den Auslösern des Problems zu befassen, und was kann getan werden, um sie anzugehen, sei es Überlastung, familiärer Stress, sensorische Überlastung oder etwas anderes.

Professionelle Hilfe bei psychischen Problemen

Obwohl autistische Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit psychische Probleme haben als nicht-autistische Menschen, ist das Gesundheitssystem überhaupt nicht darauf ausgelegt. Barrierefreiheit für autistische Menschen ist hier nicht die Regel, sondern die Ausnahme:

  • Autist*innen berichten oft, dass Fachkräften sie nicht verstehen oder nicht ernst nehmen.
  • Therapeut*innen wissen leider oft sehr wenig von Autismus, haben aber viele Klischeevorstellungen. Sie können oft nicht auseinanderhalten, was für eine autistische Person normal und gesund ist, und was Symptome einer psychischen Krankheit sind.
  • Die Kommunikationsunterschiede machen ein gegenseitiges Verstehen schwierig.
  • Dazu kommen organisatorische Faktoren: Fachkräfte sind teilweise nur per Telefon erreichbar, die Wartebereiche sind stressig.
  • Viele psychische Gesundheitsprobleme können bei Autist*innen anders aussehen. Wenn eine autistische Person depressiv ist, sieht sie möglicherweise nicht „typisch“ verzweifelt aus – obwohl sie suizidgefährdet ist. Vor dem Hintergrund, dass es schwierig ist, einen Therapieplatz zu bekommen, kann das fatal sein.
  • Andererseits kommen Fachkräfte manchmal zu dem Schluss, dass eine autistische Person eine akute Geisteskrankheit hat, wenn sie tatsächlich einen Meltdown hat.
  • Dinge, die eine autistische Person quälen oder sogar traumatisieren, können sich stark von dem unterscheiden, was für die meisten nicht-autistischen Personen als quälend oder traumatisch bekannt ist.
  • Therapien müssen möglicherweise angepasst werden, aber dazu fehlen die Kenntnisse über Autismus.

Wie kann ich helfen?

Da autistische Menschen sehr unterschiedlich und möglicherweise schwer zu lesen sind, ist es besonders wichtig, genau zuzuhören, was die Person über ihre Gefühle sagt. Berichte über Kummer, Gedanken an Selbstverletzung und Selbstmord müssen ernst genommen werden.

Es kann nützlich sein, einer autistischen Person, die professionelle Hilfe sucht, Unterstützung anzubieten, indem man

  • hilft, die erforderlichen Anrufe zu tätigen,
  • anbietet, sie zu begleiten, oder
  • ihre Bedenken im Voraus zu besprechen.

Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Fachkraft zuhört und versteht, was die Person ihr zu sagen versucht und was sie will und was nicht.

Autistische Menschen werden wahrscheinlich weitaus mehr von Behandlungen für die psychische Gesundheit profitieren, die an ihre Bedürfnisse angepasst sind.

Möglicherweise

  • benötigt eine autistische Person in einer Gesprächstherapie mehr Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten und ihre Gedanken zu formulieren,
  • kann es schwierig sein, zwischen den Sitzungen das Thema ruhen zu lassen, oder
    es fällt ihr schwer, ihre Gefühle direkt zu identifizieren und zu benennen.
  • Autist*innen haben möglicherweise andere Endziele als andere.
  • Es kann lange dauern, bis Vertrauen bei einigen Fachleuten aufgebaut ist, oder es kann schwierig sein, überhaupt eine Verbindung herzustellen.
  • Es gibt auch zunehmend Hinweise darauf, dass autistische Menschen viel häufiger unvorhersehbar auf eine Reihe von Medikamenten reagieren.

All das macht es wichtig, effektiv darüber zu kommunizieren,

  • wie die Behandlung abläuft,
  • welche Sorgen die Person möglicherweise diesbezüglich hat, und
  • was angepasst werden kann, um zu wirksam helfen.

Vertrauenswürdige Personen, die ohne Vorurteile Unterstützung und Kontinuität in der Versorgung bieten, ob Allgemeinmediziner*innen, Therapeut*innen oder Unterstützer*innen, können einen großen Unterschied für eine autistische Person bedeuten, die Unterstützung bei psychischen Problemen sucht.

Erfahrungen autistischer Menschen

Welche Erfahrungen machen autistische Menschen, wenn sie wegen psychischen Problemen zu Ärzt*innen und Therapeut*innen gehen?

Hier sind einige Zitate autistischer Menschen. Ich habe sie aus drei Studien sowie persönlichen Gesprächen entnommen. Meine Zusammenstellung ist nicht repräsentativ, aber die Zitate sprechen wichtige Punkte an:

Mir wurde gesagt, ich solle diese Medikamente nehmen, weil sie noch das beste von dem üblen Zeug seien, und in 12 Monaten wiederkommen.

Mein Therapeut verstand all die verschiedenen Dinge, die ich erlebte, und er verstand auch Autismus. Er passte die Herangehensweise [kognitive Verhaltenstherapie] an, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ich nicht sagen konnte, wie ich mich fühlte.

Meine schlimmste Erfahrung war es, 12 Monate auf der Warteliste für einen Therapieplatz zu sein, weil ich suizidgefährdet war.

Ein Psychologe sagte mir, dass nur Kinder autistisch sein könnten.

Sobald meine [Autismus-Spektrums-]Diagnose bestätigt war, wurde ich von der Warteliste geworfen.

Der Therapeut sagte, dass ich zu kompliziert zu behandeln sei.

Ich suche schon seit Jahren keine professionelle Hilfe mehr, obwohl ich Krisen habe. Aber ich traue den Fachkräften nicht mehr.

Mir wurde gesagt, dass es normal für mich sei, depressiv zu sein.

Ich will, dass sie wissen, dass viele von uns von der Behandlung ausgeschlossen sind, weil einige Ärzte und andere Fachleute beschlossen haben, dass es für autistische Menschen normal und akzeptabel ist zu leiden.

Es braucht standardmäßig Wege, vor und nach der Diagnose, um Unterstützung und Screening anzubieten für psychische Krankheiten und andere Zustände, die bei Autisten häufig sind.

Es wäre so viel besser, wenn ich nicht warten müsste, bis ich mitten in einer Krise stecke, um Hilfe zu bekommen.

Zum ersten Mal habe ich einen sicheren und nicht-wertenden Ort, wo ich hingehen kann, mit Menschen, denen ich vertraue, mit denen ich reden kann, ob ich in einer Krise bin oder nur kleinere Sorgen habe und vermeiden will, dass sie größer werden, oder auch nur für praktische Ratschläge für die Arbeit.

Wenn ich eine Krise habe, kann ich teilweise nicht mehr kommunizieren. Die Visite in der Klinik war immer sehr stressig für mich, weil ich in einem Raum voller Leute sprechen musste. Also habe ich jetzt Einzelsitzungen mit meinem Psychiater. Ich komme jetzt gut mit meiner Koordinatorin klar und sie hat gelernt, direkte Fragen zu stellen statt offenen, aber nicht jeder ist so entgegenkommend.

Im Rückblick war ein massives Hindernis, dass ich Gefühle nicht so wie andere Leute zeige. Außer dass ich magersüchtig war, hat mir niemand geglaubt, dass ich ein Problem hatte oder dass ich Hilfe brauchte. Es gibt bestimmte Dinge, die von depressiven Menschen erwartet werden, aber ich mache die nicht.

Ich habe mich gefühlt, als würde ich innerlich zusammenbrechen, aber ich wusste nicht, wie ich die Gefühle in mir anderen Leuten zeigen sollte.

Durch die Therapie fühle ich mich nicht mehr so oft depressiv und habe eine gesunde Beziehung angefangen.

Ich hatte mit jedem der Therapeuten Kommunikationsprobleme, weil sie erwarteten, dass ich neurotypisch sei. Wenn ich also Dinge wörtlich genommen habe, dann dachten sie, es wäre ein Abwehrmechanismus, oder ich habe versucht, Meltdowns zu erklären und sie konzentrierten sich auf die Gedanken statt darauf, wie man mit der überreaktiven sensorischen Wahrnehmung umgehen kann.

Ich weiß, dass ich oft nicht merke, wie schlimm es geworden ist. Letztes Jahr habe ich angefangen, über Selbstmord nachzudenken, obwohl ich nicht sterben will, und erst dadurch habe ich gemerkt, wie schlecht es mir ging.

Mir fällt es sehr schwer, Hoffnungslosigkeit und Depression zu vermeiden, und ich weiß nicht, wann ich nach Hilfe suchen soll.

Weil sich meine Reaktionen von denen neurotypischer Menschen unterscheiden, werde ich manchmal als psychisch krank angesehen, auch wenn ich es nicht bin. Das finde ich sehr frustrierend.

Ich hatte mehrere unwirksame Medikamente und Therapien, einschließlich ignoranter Psychiater und Berater, die alles eher verschlimmerten als verbesserten, weil sie entscheiden wollten, was das Problem war und was die beste Lösung war, ohne mir wirklich zuzuhören. Ich hatte aber auch einige sehr gute Berater und Hausärzte, die zugehört haben, sich mit mir auf eine Art unterhalten haben, mit der ich etwas anfangen konnte, und die mit mir gearbeitet haben, anstatt einfach nur an mich dran zu reden.

Die Unterstützung, die ich bekomme, ist sehr wichtig für mich… früher ging es mir so schlecht dass ich dachte, mich umzubringen sei besser als weiterzumachen. Ich sehe jetzt, dass ich nie gelernt hatte, um Hilfe zu bitten. Ich hatte mich mein Leben lang verstellt und dachte, ich müsste in der Lage sein, alles selbst zu tun. Ich finde es immer noch schwierig, die Hilfe anzunehmen, aber ich kann mit ganzem Herzen sagen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes lebensrettend war. Ich war mit meinem Selbstwertgefühl auf einem Tiefpunkt. Ich bin dankbar für die Unterstützung, weil sie mir bei Veränderungen im Leben hilft, die ich mit Sicherheit nicht alleine schaffen könnte. Ich glaube daran, dass ich lernen kann, mich für mich selbst wertzuschätzen und vielleicht einen Weg zu finden, friedlich zu leben.

So zu tun, als wäre ich nicht-autistisch, ist unglaublich anstrengend und stressig und hat auf Dauer meine psychische und körperliche Gesundheit geschädigt.

Es fehlt an Wissen

Nur 3% der Autismus-Forschung befasst sich mit der psychischen Gesundheit autistischer Menschen. Deshalb sind zur Zeit noch viele Fragen offen.

Wichtige Forschungsfragen wären zum Beispiel:

  • Wie kann man psychischen Erkrankungen bei autistischen Menschen vorbeugen?
  • Welche Maßnahmen sind wirksam, um autistischen Menschen mit Lernschwierigkeiten zu helfen, psychische Probleme zu überwinden?
  • Nach welchen Anzeichen sollten Ärzt*innen Ausschau halten, um Depressionen bei autistischen Menschen zu erkennen?
  • Wie kann Selbsthilfe (die gegenseitige Unterstützung autistischer Menschen) dazu beitragen, die psychische Gesundheit autistischer Menschen zu verbessern?
  • Wie muss man Unterstützung anpassen, um autistischen Menschen zu helfen, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden oder von Selbstmord bedroht sind?
  • Sind Antidepressiva wirksame Behandlungen gegen Depressionen bei autistischen Erwachsenen?

Dabei spielt auch eine Rolle, dass autistische Menschen alle sehr unterschiedlich sind.

Wir müssen sehr genau hinsehen, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse nicht-sprechender Menschen im Autismus-Spektrum nicht untergehen.

Zusammenfassung

Autistische Menschen haben mit höherer Wahrscheinlichkeit psychische Probleme. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich in negativen Lebenserfahrungen und einer prekären sozialen Situation (zum Beispiel Mobbing, Arbeitslosigkeit).

Neben präventativen Maßnahmen brauchen wir auch einen besseren Zugang zu professioneller Unterstützung (Therapien, Beratung etc.) und mehr Forschung darüber, was autistischen Menschen bei psychischen Problemen hilft.



Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus