Wir sind autistisch und das ist gut so.

Referate und jegliche Art mündlicher Präsentation sind oft ein massives Problem für autistische Studierende.

In manchen Studiengängen sind Referate ein fester Bestandteil der Seminare und du wirst viele davon machen müssen, um die notwendigen Leistungsnachweise zu bekommen. In anderen Fächern sind sie sehr selten und du wirst vielleicht nie ein Referat halten müssen.

Dort, wo sie gefordert sind, sind sie kaum zu umgehen.

Können autistische Studierende für Referate einen Nachteilsausgleich bekommen?

Wenn du mit den Referaten Probleme hast und der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung deine Autismus-Diagnose bereits mitgeteilt hast (oder bereit bist, das zu tun), kannst du möglicherweise einen Nachteilsausgleich bekommen.

Ein Nachteilsausgleich könnte zum Beispiel darin bestehen, dass du eine Videopräsentation abgibst, anstatt persönlich vorzutragen, oder dass du deine Arbeit der Dozent*in unter vier Augen präsentierst, anstatt sie vor der Gruppe zu präsentieren.

In der Regel kann jedoch eine mündliche Leistung nicht durch eine schriftliche ersetzt werden, es sei denn, du bist überhaupt nicht in der Lage, mündlich zu kommunizieren.

Die Argumentation dahinter: Nicht nur der Inhalt des Referats sei eine Studienleistung, sondern auch die Präsentation.

Ich finde das fragwürdig. Aus meiner Sicht stellt das eine Benachteiligung vieler autistischer Studierender dar, die oft große Schwierigkeiten mit mündlichen Präsentationen haben.

Als ich in der Schule und im Studium war, haben die Lehrenden uns regelmäßig und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass wir im Berufsleben ja auch mündliche Präsentationen halten werden müssen, und deshalb sei es wichtig, das jetzt zu üben.

Und wisst ihr was?

  • Heute, im Berufsleben, muss ich keine mündlichen Präsentationen halten. Ich hätte die Möglichkeit, aber ich muss es nicht.
  • Ich glaube sogar, dass ich heute entspannter dabei sein könnte, wenn man mich nicht während Schule und Studium immer wieder in diese für mich extrem unangenehme Situation gezwungen hätte.
  • Ich denke, dass Schule und Studium chancengleich gestaltet werden müssen, selbst wenn die Arbeitswelt es nicht ist.

Referate werden manchmal direkt benotet, in anderen Fällen gibt es keine direkte Note, aber der Eindruck, den die Dozent*in dabei von dir gewinnt, wirkt sich auf andere Noten aus.

Autistische Studierende haben aber trotz guter Kenntnisse oft Schwierigkeiten, in einer mündlichen Präsentation kompetent zu wirken.

Möglicherweise kannst du im Einzelfall mit einer Dozent*in eine andere Regelung (als Alternative zum Referat) aushandeln, aber du kannst dich nicht darauf verlassen, Referate umgehen zu können.

Die Frage ist also, wie kannst du damit umgehen? Einige Fragen, die du dir stellen solltest:

  • Wie schwierig sind Referate und mündliche Präsentationen für dich? Würden sie deinen Studienabschluss gefährden oder sind sie »nur« unangenehm?
  • Sind Referate ein regelmäßiger (Pflicht-)Bestandteil in deinem (angestrebten) Studiengang? Gibt es alternative Studiengänge, die für dich in Frage kommen?
  • Würde es dir helfen, Referate als Video-Präsentation oder einzeln nur vor der Dozent*in zu halten? Gibt es andere mögliche Nachteilsausgleiche, die dir helfen würden?
  • Ist es eine Option für dich, zu lernen, Referate zu halten?

Kann man lernen, Referate zu halten?

Für mich war es ein Aha-Moment, als ich ein Interview mit einer Fernsehmoderatorin hörte, in dem sie beschrieb, wie intensiv sie und andere Moderator*innen sich auf die Moderation einer Live-Sendung vorbereiteten.

Diese Sendungen wirken immer sehr spontan, und natürlich haben sie immer auch spontane Aspekte – man weiß vorher nicht, was ein Gast sagen wird. Aber gerade deshalb wird der Rest genauestens durchgeplant und geübt – zehnmal so viel wie bei einer Sendung, die nicht live gesendet wird.

Ein Referat ist keine Live-Moderation; du hast viel mehr Kontrolle. Was ich sagen will: Prinzipiell kann man sich durch Übung auf eine mündliche Präsentation vorbereiten. Und ich würde das auch empfehlen.

Allerdings kann man prinzipiell auch Chinesisch lernen, und das ist nichts, was du in ein paar Wochen neben dem Studium her lernen kannst.

Deshalb erwarte nichts Unmögliches von dir.

Wenn die Übung dir hilft, dich während der Präsentation besser zu fühlen, ist schon viel gewonnen.

Weil viele Studierende Schwierigkeiten mit mündlichen Präsentationen haben, gibt es oft Kurse dazu – zum Beispiel an der Hochschule, beim Hochschulservice der Agentur für Arbeit oder bei der Volkshochschule.

Wenn du dich traust hinzugehen, kann das möglicherweise sinnvoll sein. (Ich weiß es nicht, denn ich habe mich nie getraut.)

Referate zu halten ist auch etwas, woran du mit einer Ergotherapeut*in arbeiten kannst (siehe Ergotherapie für autistische Studierende). Die Ergotherapie kann ein geschützter Raum sein, in dem du deine Fähigkeiten ausprobieren und ohne Druck entwickeln kannst.

Tipps für Referate und Präsentationen

  • Sag zu Beginn, dass Fragen am Ende des Referats gestellt werden können, aber lieber nicht mittendrin (wenn dich das durcheinanderbringt).
  • Wenn du eine Powerpoint-Präsentation erstellst, kannst du vielleicht punkten, indem du sie besonders kreativ machst oder in einer anderen Weise positiv hervorstichst. Achte dabei aber auf die Konventionen des Faches oder Kurses – möglicherweise willst du dir vorher Feedback holen.
  • Sprich dein Referat vorher mehrfach ein. Möglicherweise willst du dabei vor dem Spiegel üben oder deine Stimme aufnehmen – aber nur wenn dich das nicht noch mehr stresst.
  • Überlege dir, was ein geschützter Raum zu üben sein könnte. Vielleicht kannst du das Referat vor deiner Mutter oder einer anderen unterstützenden Person halten.
  • Denk daran, dass ein Referat nicht perfekt sein muss. Die Uni ist ein Raum zum Lernen und niemand erwartet, dass du ein Profi im Präsentieren bist.

Erfahrungen autistischer Studierender

»Referate vor Publikum zu halten war anfangs eine echte Qual, aber nach und nach wurde es einfacher.«

Sarina

»Es war schwierig, die Aufgaben pünktlich abzugeben und die Arbeit vor Publikum zu präsentieren.«

Jonas

Erfahrungen einer Dozentin

»Autistische Studierende können bei Präsentationen im Seminar extreme Ängste entwickeln. Ich habe gelernt, die Anforderungen für Präsentationen zu ändern und den Studierenden die Möglichkeit zu geben, Videoclips und/oder Voice-overs einzubinden, damit sie nicht vor der Klasse stehen und eine Präsentation persönlich halten müssen. Diese Präsentationen waren so effektiv und kreativ, dass ich diese Möglichkeit nun allen Studierenden in meinen Seminaren biete.«

Yvette Q. Getch, Associate Professor, Western Kentucky University

Zuletzt bearbeitet am 01.12.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus