Wir sind autistisch und das ist gut so.

Die Studienwahl ist für autistische Menschen eine wichtige Entscheidung: Willst du studieren, und wenn ja, was? Ein Studium kann (gerade für Autisten) eine wichtige Erfahrung und ein essenzieller Schritt auf dem Weg zum Wunschberuf sein. Es kann aber auch Gründe geben, (noch) nicht zu studieren.

Hier geht es darum, herauszufinden,

  • ob ein Studium das richtige für dich ist,
  • wie du dich für ein Studienfach entscheidest, und
  • was du machen kannst, wenn du (noch) nicht studieren willst.

Will ich studieren?

Ein Studium ist nie einfach, und es erfordert immer Anstrengung und Durchhaltevermögen.

Studierende, die tatsächlich studieren wollen, können sich in schwierigen Phasen selbst motivieren, diese zu überwinden.

Wer sich dagegen nur für ein Studium entschieden hat, weil sie*er nicht wusste, was sonst machen, oder weil die Eltern es gerne so wollten, wird das Studium mit viel höherer Wahrscheinlichkeit aufgeben.

Stell dir folgende Fragen:

  • Warum will ich studieren?
  • Beeinflusst mich jemand oder etwas?
    Wir alle werden durch unsere Umgebung beeinflusst − ganz automatisch und meist unbewusst. Werde dir aber bewusst, welche Vorstellungen dein Umfeld bezüglich des Studiums hegt − dann kannst du klarer sehen, ob sich das mit deinen eigenen Zielen deckt.
  • Welche Ziele verfolgst du mit deinem Studium?
    Willst du einen bestimmten Beruf ausüben? Findest du das Fach einfach super spannend? Ist es in deinem Umfeld üblich, dass man studiert und du willst nicht als Loser dastehen? Ich will diese Ziele gar nicht bewerten. Aber wenn du dein Ziel klar vor Augen hast, kannst du den Weg dorthin besser planen.

Was machen, wenn ich nach der Schule nicht gleich studieren will?

Wenn du noch nicht genau weißt, ob du studieren willst oder nicht, oder wenn dich einfach noch nicht bereit dafür fühlst, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, um neue Erfahrungen zu machen und herauszufinden, was du willst:

  • Praktika
  • Bundesfreiwilligendienst (BuFDi)
  • Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ)/ Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ)
  • Reisen
  • „Studium generale“ / Universal-Studium

Informiere dich über das Studium und mögliche Berufsziele

Studien- und Berufsinformationsportale

Im Internet findest du viele Informationen rund ums Studium, mögliche Studienfächer und Berufsfelder:

Du hast wahrscheinlich eine grobe Vorstellung davon, in welche Richtung es gehen soll – oder zumindest weißt du, was du auch keinen Fall machen willst. Gehe ruhig einmal die Listen der Studiengänge durch und mach dir Notizen,

  • was spontan interessant klingt
  • was du zumindest einmal in Betracht ziehen würdest.

Versuche dabei, möglichst offen zu sein. Es gibt viele Studiengänge, die langweilig klingen oder unter denen du dir einfach nichts vorstellen kannst. Sie können bei näherem Hinsehen interessant sein und zu Berufen führen, in denen qualifizierte Angestellte gesucht sind.

Verschaffe dir dann einen ersten Überblick über diese Studiengänge:

  • Womit beschäftigt man sich im Studium schwerpunktmäßig?
  • Kannst du die Anforderungen des Studiums erfüllen? In einigen Fächern musst du Statistik oder andere mathematische Kurse belegen, in Medizin musst du große Mengen an Informationen im Gedächtnis behalten können, in den Geisteswissenschaften wirst du oft (implizit) danach bewertet, wie gut du dich mündlich ausdrücken kannst. Lass dich davon nicht abhalten, aber überlege dir, was dir entgegenkommt, und woran du bereit bist zu arbeiten.
  • Zu welchen Berufsfeldern führt das Studium? Informiere dich über die Berufe. Nutze dafür nicht nur die Berufsinformationsseiten, sondern versuche zum Beispiel auch, Interviews mit Leuten zu finden, die in diesem Bereich arbeiten. Diese findest du in Fachzeitschriften und -blogs, aber auch auf Youtube und in Podcasts.

Du kannst auf deiner Liste Dinge notieren, die für oder gegen einen bestimmten Studiengang sprechen. Wenn du feststellst, dass ein Studiengang nichts für dich ist, streichst du ihn einfach von deiner Liste.

Alternativ kannst du deinen Entscheidungsprozess auch bei den Berufen anfangen, und dann einen Studiengang aussuchen, der zu diesem Beruf führt.

Bedenke in jedem Fall, dass die Arbeitswelt sich in einem Veränderungsprozess befindet, und es einige Berufe in 10-20 Jahren in dieser Form nicht mehr geben wird, und gleichzeitig auch neue entstehen werden.

Interessen- und Eignungstests

Interessen- und Eignungstests ermöglichen es, die Interessen und Fähigkeiten einer Person zu bestimmen und somit Studiengänge oder Berufe zu finden, die gut zu ihr passen.

Interessentests dienen dazu, die Interessen und Vorlieben einer Person zu ermitteln. Sie beinhalten eine Vielzahl von Fragen zu unterschiedlichen Aktivitäten und Aufgaben, um herauszufinden, welche Bereiche für die Person interessant sind. So können beispielsweise Fragen zu Hobbys, Freizeitaktivitäten oder auch dem Lieblingsfach in der Schule gestellt werden. Die Antworten ermöglichen es, eine umfassende Liste von Studiengängen oder Berufen zu erstellen, die den Interessen der Person entsprechen.

Eignungstests hingegen dienen dazu, die Fähigkeiten und Talente einer Person zu ermitteln. Diese Tests beinhalten verschiedene Übungen, um kognitive und praktische Fähigkeiten zu messen. So können beispielsweise Fragen zu räumlichem Denken, logischem Denken oder zum Umgang mit Werkzeugen gestellt werden. Auch hierbei können die Antworten genutzt werden, um eine Liste von Studiengängen oder Berufen zu erstellen, die zu den Fähigkeiten und Talenten der Person passen.

Es gibt auch kombinierte Tests, die sowohl die Interessen als auch die Fähigkeiten der Person messen. Diese Tests können dazu beitragen, eine umfassende Liste von Studiengängen oder Berufen zu erstellen, die sowohl den Interessen als auch den Fähigkeiten der Person entsprechen.

Viele Interessen- und Eignungstests können online durchgeführt werden. Manche sind kostenlos, andere kosten Geld. Probier ruhig einige aus – aber die Ergebnisse solltest du eher als Inspiration und als Ausgangspunkt für weitere Recherchen nutzen denn als Fakt.

Das liegt unter anderem daran, dass die Tests Autismus nicht in die Berechnung miteinbeziehen. Sie gehen in der Regel davon aus, dass die sozialen Kompetenzen und Wahrnehmungsverarbeitung im durchschnittlichen Bereich liegen. Deshalb solltest du die Empfehlungen sorgfältig darauf abklopfen, ob sie wirklich für dich geeignet sind.

Informationen und Beratung vor Ort

Wenn du eine erste Vorstellung hast, welche Studiengänge für dich infrage kommen, kannst du dich auch vor Ort informieren und beraten lassen, zum Beispiel hier:

BiZ – Berufsinformationszentrum der Agentur für Arbeit (BiZ)

Das BiZ kann dich auf verschiedene Weise bei deiner Berufs- und Studienwahl unterstützen. Es bietet eine breite Palette an Dienstleistungen und Ressourcen, um dir bei deiner Entscheidungsfindung und Planung zu helfen.

Informationsmaterialien stellen eine wichtige Ressource des BiZ dar. Die umfangreiche Sammlung von Broschüren, Büchern, Videos, Online-Tools und anderen Informationsquellen zu verschiedenen Berufen, Studiengängen und Ausbildungsmöglichkeiten kann bei der Orientierung unterstützen und Entscheidungen erleichtern.

Neben Informationsmaterialien bietet das BiZ auch persönliche Beratungsgespräche an. Die Expert*innen des BiZ nehmen sich Zeit für individuelle Bedürfnisse und berücksichtigen persönliche Interessen, Fähigkeiten und Erfahrungen, um den richtigen Studien- oder Berufsweg zu finden.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Person, die dich berät, spezielles Wissen über Autismus hat. Du kannst ihr aber konkret sagen, womit du Schwierigkeiten hast, und zum Beispiel fragen, welche sozialen Anforderungen ein bestimmter Beruf hat (wie viel direkter Kundenkontakt etc.).

Regelmäßig organisiert das BiZ auch Veranstaltungen wie Vorträge, Workshops und Informationsveranstaltungen. Hier kannst du dich über spezifische Berufsbilder informieren und verschiedene Studiengänge und Ausbildungsmöglichkeiten kennenlernen.

Zusätzlich zu den genannten Ressourcen bietet das BiZ auch verschiedene Online-Tools und Testverfahren an, die dir bei der Entscheidungsfindung helfen können, vor allem Interessen- und Eignungstests.

Berufsberatung für Menschen mit Behinderungen der Agentur für Arbeit

Die Agentur für Arbeit bietet eine Berufsberatung für Menschen mit Behinderungen an. Dort gibt es auch ein*e Autismusbeauftragte für verschiedene Bereiche.

Die*der Autismusbeauftragte kennt die typischen Probleme autistischer Menschen, und kann dir dabei helfen, unter Einbeziehung deiner Bedürfnisse und Einschränkungen passende Studiengänge oder Berufe zu finden.

Beratung für Studieninteressierte an der jeweiligen Hochschule

Die meisten Hochschulen bieten eine Beratung für Studieninteressierte an. Diese findest du, indem du »Beratung für Studieninteressierte [Name der Hochschule]« in eine Suchmaschine eingibst.

Informationsveranstaltungen der Hochschulen

Fast alle Hochschulen bieten regelmäßig Informationstage für Studieninteressierte an. Eine Übersicht findest du auf Studienwahl.de, oder du siehst auf der Website der Unis nach.

Auch der Girls‹ Day bzw. Boys‹ Day ist eine gute Möglichkeit, mehr über verschiedene Fächer zu erfahren.

Erfahrungen anderer Studierender

Über Foren oder soziale Netzwerke kannst du Kontakt mit Studierenden aufnehmen oder auch einfach nur Diskussionen mitlesen. Das zeigt dir eine andere Seite des Studiums als offizielle Broschüren es tun können.

Ebenfalls interessant können Fachforen und -gruppen für bestimmte Berufsfelder sein.

Online Uni-Kurse (MOOCs)

Im Internet findest du zahlreiche Uni-Kurse, die du online machen kannst. Sie werden MOOCs genannt (Massive Open Online Courses). Diese Kurse sind oft kostenlos zugänglich (nur wenn man ein Zertifikat erwerben will, muss man bezahlen).

Für die Studienorientierung sind sie deshalb sehr interessant:

  • Du kannst dich unkompliziert durch unterschiedliche Kurse klicken, um eine Vorstellung unterschiedlicher Fächer und Fachbereiche zu bekommen. Du wirst relativ schnell merken, ob etwas nur auf den ersten Blick interessant klang oder ob du den ganzen Kurs machst und danach mehr wissen willst.
  • Vielleicht entdeckst du Fächer, die du bisher noch gar nicht in Betracht gezogen hast.
  • Du kannst besser einschätzen, ob die mit einem Fach zurechtkommst.

Natürlich können (und werden) deine Lehrveranstaltungen an der Uni anders sein als in dem MOOC, den du gerade ansehen hast. Aber wenn dir die Vorlesung über die Prinzipien der Biochemie als MOOC zusagt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du diese Vorlesung auch im »echten« Studium mögen wirst.

Ein Nachteil ist, dass es relativ wenige MOOCs auf Deutsch gibt. Bei weitem die meisten sind auf Englisch. Manche gibt es mit deutschen Untertiteln.

Die größten Anbieter von MOOCs sind:

Vorlesungen besuchen

Ob du bereits eine klare Vorstellung hast, welches Fach du studieren willst, oder ob du einfach einmal sehen willst, wie eine Vorlesung an der Uni abläuft: Geh einfach mal hin und hör dir eine Vorlesung an.

Das geht so:

Suche im Vorlesungsverzeichnis deiner Uni nach einer Vorlesung, die dich interessiert und zeitlich für dich passt. (Achte darauf, dass es eine Vorlesung ist und kein Seminar, Tutorium, Laborkurs oder ähnliches.)

Schicke der Dozent*in eine E-Mail, in der du schreibst, dass du kurz vor dem Abitur stehst, überlegst, das jeweilige Fach zu studieren, und gern probeweise ihre Vorlesung besuchen möchtest, um zu sehen, ob es das richtige für dich ist.

Üblicherweise schätzen Lehrende es, wenn Studieninteressierte sich informieren und werden mit großer Wahrscheinlichkeit zustimmen (wie gesagt, im Fall einer Vorlesung. In anderen Lehrveranstaltungen gibt es oft eine beschränkte Anzahl von Teilnehmenden und die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung ist deutlich höher. Allerdings gilt auch hier: Fragen kostet nichts.)

Alternativ kannst du auch einfach zur Vorlesung hingehen und dort die Dozent*in fragen. Manche setzen sich einfach so rein, obwohl es streng genommen nicht erlaubt ist − aber in der Menge an Studierenden fällt man nicht auf. Achte in jedem Fall darauf, dass du pünktlich bist – rechne Zeit ein, um das richtige Gebäude und den Raum zu finden.

Praktika

Ich weiß, das kann ein schwieriger Schritt sein – aber ein Praktikum kann eine wirklich wertvolle Erfahrung bei der Berufsfindung sein.

  • Du lernst dein Berufsfeld kennen, wie es wirklich ist.
  • Du kannst deine Fähigkeiten und Interessen in einem realen Arbeitsumfeld testen und entwickeln.
  • Im Praktikum kannst du verschiedene Rollen und Verantwortlichkeiten im Arbeitsumfeld ausprobieren und herausfinden, welche Aspekte des Berufs dir am besten gefallen und welche weniger gut zu dir passen.
  • Im Praktikum kannst du Arbeitsabläufe und Erwartungen im Berufsleben kennenlernen und dich so besser auf den Berufseinstieg vorbereiten.
  • Du lernst die Anforderungen des Arbeitsumfelds kennen, bevor du wirklich einen Job hast. Dadurch weißt du frühzeitig, wo mögliche Probleme liegen könnten und kannst dir überlegen, wie du später damit umgehen willst.

Im Praktikum sind die Erwartungen an dich relativ gering, und du darfst Fehler machen.

Möglicherweise stellst du fest, dass du andere Arbeitsbedingungen brauchst, oder dass der Beruf gar nicht für dich geeignet ist. Es ist immer besser, diese Dinge so früh wie möglich zu wissen.

Tipps und Empfehlungen anderer mit Vorsicht betrachten

Aus meiner Erfahrung heraus sind die Empfehlungen und Tipps von Lehrkräften, Berufsberater*innen und Berufswahl-Tests mit Vorsicht zu betrachten. Möglicherweise raten sie dir von bestimmten Studiengängen oder Berufen ab, weil sie sie dir nicht zutrauen.

Mir hat man damals davon abgeraten, Psychologie zu studieren, weil man dafür Statistik lernen muss (ich war in der Schule schlecht in Mathe, das lag aber daran, dass ich mir keine Mühe gegeben habe). Stattdessen hat ein Berufswahl-Test mit vorgeschlagen, Förster zu werden (ja, ich mag Wald und Bäume, bin aber aus verschiedenen Gründen froh, kein Förster geworden zu sein).

Meine heutige Tätigkeit, Online-Publishing, gab es damals noch nicht, und meine Lehrer und Berufsberater waren sicher die letzten, die sie vorhergesehen hätten.

Deshalb finde ich es so wichtig, dass du dir selbst ein Bild von deinem Studiengang und möglichen zukünftigen Berufen machst.

Und wenn man dir sagt, dass du etwas studieren sollst, wofür man keine Statistik braucht, dann arbeite doch einen Einführungskurs Statistik als MOOC durch (das ist wahrscheinlich schwieriger als im Studium, weil du kein Tutorium, keine Lerngruppe o.ä. dazu hast), und zeig ihnen (und vor allem dir selbst), dass du es schaffen kannst.

Hier findest du viele weitere Informationen zum Thema Autismus und Studium.

Zuletzt bearbeitet am 08.05.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus