Theater, Musical & Kino: Barrieren für Autisten
Letzten Herbst ging Anne Mehring mit ihrer elfjährigen autistischen Tochter Linda* ins Theater. Linda war gespannt auf die Aufführung und sehr aufgeregt.
Linda hatte Spaß im Theater, aber gleichzeitig war sie angespannt und sensorisch überfordert.
Sie versuchten, in verschiedenen Bereichen zu sitzen.
In der vorderen Reihe drehte sie ständig den Kopf um, um zu sehen, was all die Leute hinter ihr machten,
erzählt Anne. In der hintersten Reihe genoss sie das Gefühl, mit den Füßen gegen den Sitz vor ihr zu treten. Der Gang schien die einfachste Lösung zu sein.
Die Platzanweiser erlaubten aber nicht, dass sie dort saßen. Inzwischen drehten sich die Leute nach ihnen um und warfen ihnen missbilligende Blicke zu. Schließlich entschieden sie sich zu gehen.
Viele Eltern autistischer Kinder haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie stehen vor einem Dilemma: Sie wollen, dass ihr Kind ein angenehmes Erlebnis hat, und sie wollen nicht, dass andere Leute denken, dass sie schlechte Eltern sind, weil sie ihr Kind nicht beruhigen können. Viele meiden solche und ähnliche Situationen inzwischen, soweit es geht.
Kinder und Erwachsene im Autismus-Spektrum sind oft sensorisch überfordert durch die Aufführung: Flackernde Lichter, ein plötzlicher Knall, Beifall – all das kann schnell zu Reizüberflutung führen. Aber haben autistische Menschen nicht genauso wie andere ein Recht auf Kunst und Kultur?
In welchem Ausmaß ist die Gesellschaft dafür verantwortlich, Kunst für alle zugänglich zu machen? Sollten Theater für alle Menschen mit Behinderungen zugänglich sein, einschließlich autistischer Menschen? In welchen Ausmaß sollten die Theater dafür Vorkehrungen treffen und für wen?
Nach Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ist Teilhabe am kulturellem und künstlerischem Leben ein Recht, kein Privileg: Darin festgeschrieben sind ausdrücklich der Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten
sowie der Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten
.
Wenn wir über die ethischen Abwägungen der Zugänglichkeit in Theatern für Menschen mit ASS nachdenken, ist vielleicht die wichtigere Frage, warum dieser Zugang als außergewöhnlich gesehen wird. Inklusion für Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur ist nicht einfach eine Frage der Zugänglichkeit, sondern ein Recht. Das Theater muss dazu einen einladenden und unterstützenden Rahmen bieten, in dem Menschen mit Autismus und ihre Familien mehr Barrierefreiheit und Akzeptanz finden. Es hat das Potential, Verständnis für die menschliche Erfahrung zu erschließen – für Kinder mit Autismus genauso wie für die allgemeine Gesellschaft.
Blythe A. Corbett: Autism, Art, and Accessibility to Theater
Autistische Menschen müssen bewusst lernen, in der Interaktion ihre Stimme, Körpersprache und ihren Gesichtsausdruck zu regeln – genau wie Schauspieler. Sie schauspielern sich ihren Weg durchs Leben, und das Stück hört nie auf. Theater und performative Kunst kann deshalb auch ein Weg sein, wie autistische Menschen diese Kompetenzen lernen können – ob als Zuschauer oder Darsteller. Hier gibt es noch sehr viel ungenutztes Potential.
Theateraufführungen – dynamisch, fesselnd, und narrativ – haben die seltene Gabe, über viele grundlegende Aspekte der menschlichen Erfahrung zugleich zu unterhalten und zu lehren. Theaterstücke und Musicals zu besuchen, könnte für Menschen mit Autismus und anderen Behinderungen eine Gelegenheit bieten, ihre Phantasie anzuregen, soziale Kommunikation zu beobachten, und Erzählkunst in einem unterhaltsamen Rahmen live zu erleben.
Blythe A. Corbett
Inhaltsverzeichnis
Die Autism Theatre Initiative
2011 wurde die Autism Theatre Initiative gegründet. Sie ist Teil der Non-Profit-Organisation Theatre Development Fund (TDF), die Theater allen Interessierten nahebringen will und dazu unter anderem vergünstigte Tickets an benachteiligte Gruppen abgibt und hilft, Theater barrierefrei zu machen. Ziel der Autism Theatre Initiative ist es, Theater (und Musicals etc.) für Kinder und Erwachsene im Autismus-Spektrum und ihre Familien barrierefrei zu machen.
Die Vorstellungen werden leicht angepasst, um sie für autistische Menschen angenehmer zu machen. Flackernde Lichter oder sehr laute Geräusche werden vermieden – dennoch soll das Theatererlebnis erhalten bleiben. Dafür beraten Autismus-Experten – und die besten Experten sind autistische Menschen selbst. Am Broadway ist Harry Smolin die Stimme und Logik hinter den autismus-freundlichen Anpassungen. Der 18-jährige ist seit seiner Kindheit passionierter Theatergänger und selbst autistisch. Ich habe den besten Beruf den Welt,
findet er.
Was macht eine Inszenierung barrierefrei?
Die Aufführung bietet eine freundliche, akzeptierende Umgebung für autistische Kinder und Erwachsene (sowie andere Menschen mit sensorischen Empfindlichkeiten) und ihre Familien und Freunde. Leichte Anpassungen an der Inszenierung werden vorgenommen: schrille oder sehr laute Geräusche werden vermieden, genauso Rundumlichter, die ins Publikum leuchten oder Stroboskoplichter. In der Lobby gibt es Ruhezonen und Bereiche für andere Beschäftigungen (z.B. Spielen, Malen) für diejenigen, die während der Aufführung den Saal verlassen möchten.
Kinder mit Autismus sind alle einzigartig, aber sie haben ein paar Gemeinsamkeiten, vor allem sensorischer Art. Sehr laute Geräusche können verstörend sein. Grelles Licht, und insbesondere flackerndes Stroboskoplicht, können ein Problem sein, weil Kinder mit Autismus häufiger Epilepsie haben.
Als wir einen Ausschuss von Autismus-Experten baten, sich den
König der Löwenanzusehen, fanden sie sieben Stellen in der Aufführung, wo sie der Ansicht waren, dass es sinnvoll wäre, den Geräusch etwas herunterzufahren oder die Beleuchtung heller oder dunkler zu machen. Eine sehr geringfügige Abschwächung der Inszenierung in Bezug auf Licht und Sound, es ist eine sanfte Veränderung.
Lisa Carling (TDF)
Außerdem gibt es zusätzliche Materialien wie z.B. einen Character Guide und eine Anleitung zum Besuch der Vorstellung. In Form einer Social Story beschreibt diese, wie ein Theaterbesuch abläuft (was tun die Platzanweiser?), was einen während der Vorstellung erwartet (was heißt es, wenn der Vorhang fällt?) und wie man mit bestimmten Situationen umgehen kann:
Nach jedem Lied werden Leute Beifall klatschen. Klatschen sagt den Schauspielern, dass einem das Lied gefallen hat. Wenn ich klatschen will, kann ich das tun. Wenn das Klatschen zu laut ist, kann ich um Ohrenstöpsel oder Kopfhörer bitten, damit es leiser wird.
Für diese speziellen Vorstellungen kauft der TDF sämtliche Sitze des Theaters und verkauft sie zu reduzierten Preisen ausschließlich an Familien, Gruppen und Schulen, zu denen Personen im Autismus-Spektrum gehören. Die Tickets sind 6-8 Wochen vorher auf der Website der Organisation erhältlich und meist wenige Stunden nach Verkaufsstart ausverkauft.
Aber warum eine eigene Vorstellung für Menschen im Autismus-Spektrum? Warum nicht einfach die regulären Vorstellungen autismus-freundlich machen?
Lisa Carling, zuständig für die barrierefreien Programme des TDF, erklärt:
Wir wollten eine Umgebung schaffen, die für die Kinder und ihre Eltern einladend ist, so dass sie das Urteil anderer Zuschauer fürchten müssen, die vielleicht nicht verstehen, warum ein Kind repetitive Bewegungen macht, vor sich hinschaukelt, oder warum ein Kind vielleicht Kopfhörer braucht oder mitten in einem Lied aufstehen muss, um eine Auszeit in der Lobby zu nehmen.
Wir brauchten nicht nur eine Vorstellung, die auf die sensorischen Bedürfnisse dieses Publikums angepasst war, sondern auch das ganze Haus – die Platzanweiser, andere Zuschauer, die Schauspieler – an Bord mit einer sehr einladenden Atmosphäre.
Sie betont die angenehme Atmosphäre dieser Vorstellungen:
Der Erfolg der Autism Theatre Initiative zeigt uns, dass Menschen im Autismus-Spektrum oder mit kognitiven Behinderungen mit ihren Familien in einer sicheren, akzeptierenden Umgebung ein wunderbares Erlebnis im Theater haben. Es ist eine ganz tolle Erfahrung, diese speziellen Vorstellungen zu sehen.
Nicht alle Theater haben diesen Weg gewählt. Manche kleinen Theater haben sich entschieden, alle Vorstellungen inklusiv zu machen. Zum Beispiel das Autism Theatre Project in Charlottesville oder die Relaxed Theatre Company (RTC) in Cambridge: Hier gibt es nicht eine Version des Stücks für autistische Menschen und eine für alle anderen, sondern eine für alle – aber die ist autismus-freundlich. Oder neurodiversitäts-freundlich. Am RTC sagen sie einfach: sie ist relaxed.
Es gibt auch Kritik an extra Vorstellungen statt Inklusion. Sarah Watson von Carousel, einer Kunst-Organisation von Menschen mit Lernbehinderung, sagt:
Autismus-freundliche Vorstellungen oder gesonderte barrierefreie Vorführungen bedeuten immer Schubladendenken. Wir sollten wirklich auf Vorstellungen hinarbeiten, die für alle inklusiv sind. Dann hören wir auf, Leute zu labeln und zu gruppieren und arbeiten daran, dass alle Erfahrungen allen und jedem zugänglich sind.
Ich denke, es ist gut und wichtig, dass es beide Ansätze gibt. Sie schließen sich gegenseitig nicht aus.
Ehrlich gesagt, wäre ich froh, wenn wir in Deutschland auch nur ansatzweise eine solche Debatte hätten: Welche Herangehensweise ist besser? Wir haben sie nicht, weil es (meines Wissens) noch kein Theater gibt, das autistische Menschen als Zuschauer in Betracht zieht.
Im englischsprachigen Raum dagegen gibt es inzwischen immer mehr Theater und auch Kinos, die autismus-freundliche Vorstellungen anbieten. Bisher sind sie eher auf Kinder ausgerichtet, aber vielleicht ändert sich das allmählich. Victoria Bailey, Geschäftsführerin des TDF, freut sich über den Erfolg der Autism Theatre Initiative:
Als wir die Autism Theatre Initiative 2011 gegründet haben, hatten wir keine Ahnung, dass das Programm so eine weitreichende Wirkung haben würde. Wir haben seitdem Inszenierungen in Städten quer über die USA sowie in England, Irland und Australien beraten, um ihnen zu helfen, ihre eigenen autismus-freundlichen Vorstellungen aufzuführen.
Die Autism Theatre Initiative bietet auch einen »Planning Guide for Theatres« an, an dem sich andere Theater orientieren können, die ihre Inszenierungen autismus-freundlich machen wollen.
Und im Kino?
In Großbritannien gründete Dimensions, eine Non-Profit-Organisation, 2011 ein ehrgeiziges Projekt, in Kooperation mit der Kinokette Odeon. Zusammen entwickelten sie die autism-friendly screenings
– autismus-freundliche Filmvorführungen. Diese bieten für Menschen, die von anderen manchmal als laut
und störend
empfunden wurden, eine entspanntere und einladendere Atmosphäre.
Die Vorführungen hatten großen Erfolg bei Menschen im Autismus-Spektrum und so wurden sie zu regelmäßigen Veranstaltungen in vielen Kinos. Inzwischen bieten auch andere Kinos, sowohl große Ketten als auch Independent-Kinos, autismus-freundliche Vorführungen an. Während die ersten Vorführungen eher auf Kinder ausgerichtet waren, werden inzwischen in manchen Kinos auch Filme für andere Altersgruppen autismus-freundlich gezeigt.
Autismus-freundliche Filmvorführungen schaffen eine einladende Atmosphäre für autistische Menschen und Menschen mit Lernbehinderungen. Die Vorführungen sind leicht angepasst: Das Licht im Saal geht nicht ganz aus, der Sound geht nicht über 90 Dezibel, und es gibt keine Trailer oder Werbung vor dem Film. Die Zuschauer können ihr eigenes Essen und Getränke ins Kino mitbringen, dürfen herumlaufen und sitzen, wo sie wollen, und müssen nicht leise sein.
Manche Kinos haben eine Ruhezone, wohin Zuschauer gehen können, wenn es ihnen zu viel wird. Das Personal ist in Bezug auf Autismus geschult. Die autismus-freundlichen Vorführungen finden normalerweise einmal im Monat statt, immer zur selben Zeit und werden lange vorher angekündigt.
In Großbritannien gibt es inzwischen mehr als 250 Kinos, die autismus-freundliche Vorführungen anbieten.
In Deutschland sind mir keine bekannt.
(Update: Inzwischen gibt es welche im Thalia Kino in Potsdam-Babelsberg.)
In New York steht ein elfjähriges Mädchen mit ihrer Mutter auf dem Times Square vor dem New Amsterdam Theatre. Hier wird Aladdin gespielt, das Disney Broadway Musical, und heute ist die autismus-freundliche Vorstellung. Das Mädchen blickt zum Boden, ihre Hände spielen an ihrem Rucksack herum. Aber sie hüpft auf und ab. Sie freut sich,
erklärt ihre Mutter. Sie ist autistisch, und wir gehen nur zu autismus-freundlichen Vorstellungen. Alles andere ist zu viel Stress.
In Deutschland hoffen Anne Mehring und ihre Tochter Linda, dass es bald auch hier autismus-freundliche Vorstellungen geben wird.
* Namen geändert
Zuletzt bearbeitet am 20.03.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus