Wir sind autistisch und das ist gut so.

Als Zehenspitzengang oder Zehengang bezeichnet man das Gehen auf den Zehen oder Ballen, ohne dass die Fersen den Boden berühren. Der Zehenspitzengang ist bei Kleinkindern nicht ganz ungewöhnlich: Fast 5% laufen auf Zehenspitzen, und etwa 20% der Kleinkinder mit Autismus oder ADHS. Man spricht auch von einem Spitzfuß.

Auch Kinder mit Cerebralparese oder Duchenne-Muskeldystrophie (Muskelschwund) verwenden häufiger den Zehenspitzengang.

Die allermeisten Kinder, die auf Zehenspitzen gehen, haben aber keine weiteren Auffälligkeiten.

Bis wann ist Zehenspitzengang normal?

Der Zehengang ist bei Babys und Kindern, die gerade laufen lernen, relativ häufig. Nach dem 2. Lebensjahr verliert sich der Zehengang bei vielen Kindern von selbst und sie beginnen, mit einem normalen Fersengang zu laufen.

Wie viele Kinder sind Zehenspitzengänger?

Es gibt eine schwedische Studie zum Zehenspitzengang, an der die Eltern von mehr als 1400 Kindern teilgenommen haben. Bei der Vorsorgeuntersuchung, bei der die Kinder 5 1/2 Jahre alt waren, füllten die Eltern einen Fragebogen über ihr Kind und den Zehenspitzengang aus.

Hier sind die Ergebnisse der Studie:

  • Fast 5% aller kleinen Kinder gehen eine Zeitlang auf den Zehenspitzen. Im Alter von 5 1/2 Jahren tut das jedoch nur noch weniger als die Hälfte von ihnen.
  • Die Kinder, die auf Zehenspitzen laufen, tun das meistens, sobald sie anfangen zu laufen. Aber es gibt auch welche, die ein Jahr oder mehr normal laufen, und dann anfangen, auf Zehenspitzen zu gehen.
  • Die Ex-Zehengänger sind 1 bis 2 Jahre lang auf Zehenspitzen gegangen, bevor sie normal gelaufen sind.
  • Die Kinder, die mit 5 1/2 Jahren immer noch auf Zehenspitzen laufen, tun das etwa 25% der Zeit.
  • Kinder mit einer kognitiven oder neuropsychiatrischen Behinderung (zum Beispiel Autismus) gingen mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Zehenspitzen. In der Studie waren 41% dieser Kinder auf Zehenspitzen gelaufen oder taten das noch.

Eine andere Studie kam zum Ergebnis, dass 20% der Kinder im Autismus-Spektrum (einschließlich Asperger-Syndrom) zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung den Zehenspitzengang verwendet haben. Von den Kindern mit der Diagnose Asperger-Syndrom waren 10% Zehengänger*innen.

Eine weitere Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen ADHS und dem Zehenspitzengang, und stellte fest, dass bei 20% der untersuchten ADHS-Kinder ein Zehenspitzengang beobachtet werden konnte. Nur die Hälfte der Kinder mit ADHS und Zehenspitzengang hatten eine verkürzte Achilles-Sehne.

Zehenspitzengang

Ursachen für den Zehenspitzengang

Meistens ist der Zehenspitzengang einfach eine Angewohnheit, die das Kind entwickelt, wenn es laufen lernt (habitueller Zehengang).

Manchmal ist der Zehenspitzengang jedoch verbunden mit körperlichen oder neurologischen Auffälligkeiten:

  • Eine kurze Achilles-Sehne. Diese Sehne verbindet die Unterschenkel-Muskeln mit dem Fersenbein. Wenn sie zu kurz ist, kann das Kind den Fuß nicht genug anwinkeln, um die Ferse aufsetzen zu können.
  • Cerebralparese. Bei der Cerebralparese ist der Teil des Gehirns, der die Muskelfunktion steuert, anders entwickelt oder durch eine Verletzung geschädigt. Das führt zu Störungen der Bewegung, des Muskeltonus oder der Haltung.
  • Muskelschwund. Muskelschwund ist eine genetisch bedingte Krankheit, bei der die Muskelfasern mit der Zeit schwächer werden. Manchmal verwenden Kinder mit Muskelschwund den Zehenspitzengang. Diese Diagnose kann wahrscheinlicher sein, wenn das Kind erst normal gelaufen ist, bevor es angefangen hat, auf Zehenspitzen zu gehen.

Wenn kein körperlicher Grund für den Zehenspitzengang festgestellt werden kann, spricht man vom »idiopathischen Zehenspitzengang«. »Idiopathisch« bedeutet, dass keine Ursache festgestellt werden kann.

Zehenspitzengang bei Autismus

Der Zehenspitzengang ist häufiger bei autistischen Kindern, Kindern mit Lernbehinderungen und Kindern mit Sprachstörungen. Manchmal gilt er als Anzeichen für Autismus bei Kleinkindern, das ist aber nicht unbedingt sinnvoll: In absoluten Zahlen gibt es viel mehr nicht-autistische Zehengänger*innen als autistische, einfach weil es viel mehr nicht-autistische Menschen gibt.

Die Gründe, warum autistische Kinder manchmal auf Zehenspitzen gehen, sind nicht geklärt, und vielleicht unterscheiden sie sich von Kind zu Kind.

Mögliche Gründe sind zum Beispiel:

  • Es kann einfach eine Gewohnheit sein, die sie entwickelt haben (habitueller Zehenspitzengang).
  • Fast alle autistischen Kinder haben Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung (und auch nicht-autistische Kinder können eine sensorische Integrationsstörung haben). Der Zehenspitzengang kann sensorische Gründe haben:
    • Vielleicht mag das Kind das Gefühl nicht, auf bestimmte Oberflächen zu treten.
    • Vielleicht mag das Kind den verstärkten Druck auf den Zehen oder Ballen.
    • Vielleicht hat das Kind Probleme mit der Propriozeption (das ist der Sinn, der uns Informationen über die Lage und Bewegung unseres Körpers gibt).
    • Vielleicht hat das Kind visio-vestibuläre Probleme. Das bedeutet, dass das Zusammenspiel zwischen Sehsinn und Gleichgewichtssinn (bzw. der Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn) nicht gut funktioniert.
    • Vielleicht ist es eine Form von Stimming und dient der Regulierung der Wahrnehmungsverarbeitung.

Kleinkind läuft auf Zehenspitzen – was nun?

Die meisten Kinder, die auf Zehenspitzen gehen, haben keine weiteren Auffälligkeiten. Wenn ein Kind sich sonst normal entwickelt, ist der Zehenspitzengang kein Grund anzunehmen, dass das Kind eine Behinderung hat.

Wenn du weitere Auffälligkeiten in der Entwicklung deines Kindes bemerkst, sind vielleicht folgende Ressourcen hilfreich für dich:

Wann sollte man zum Arzt?

Man sollte den Zehenspitzengang bei einer U-Untersuchung ansprechen. Einen früheren Termin sollte man machen, wenn das Kind außer dem Zehengang auch eine angespannte Beinmuskulatur hat, die Achilles-Sehne steif ist oder die Bewegungen sehr unkoordiniert sind. Auch wenn es dem Kind auf Aufforderung hin nicht gelingt, die Fersen zum Boden zu bringen, sollte man mit einem Arzt darüber sprechen.

In den meisten Fällen wird der Arzt entscheiden, dass zunächst keine Behandlung nötig ist, und den Gang des Kindes später noch einmal kontrollieren. Bei den meisten Kindern verliert sich der Zehenspitzengang im Laufe ihrer Entwicklung.

Therapie: Zehenspitzengang behandeln

Generell hängt eine mögliche Behandlung von den Ursachen ab:

  • Dehnen: Kinder, die lange auf den Zehenspitzen laufen, können Muskelsteife, Muskelverhärtungen und Schmerzen in der Achilles-Sehne erfahren. Das kann man lindern, indem man die Achilles-Sehne regelmäßig dehnt, zum Beispiel beim Vorlesen oder Fernsehen.
  • Physiotherapie kann manchmal sinnvoll sein.
  • Es gibt verschiedene orthopädische Behandlungen.
  • Wenn eine sensorische Integrationsstörung die Ursache ist, kann eine Sensorische Integrationstherapie helfen (diese findet in der Ergotherapie statt). Man kann viele sensorische Aktivitäten auch zu Hause machen.
  • Botox-Injektionen in den verhärteten Wadenmuskel können diesen zwingen, sich zu entspannen.
  • Falls eine verkürzte Achilles-Sehne oder Wadenmuskulatur die Ursache ist, kann eine Operation nötig werden. Diese Operation ist aber auch nur dann sinnvoll, wenn tatsächlich solche körperlichen Ursachen vorliegen.

Die Wirksamkeit dieser Behandlungen ist nicht abschließend geklärt. Es gibt Kinder, die auch nach zahlreichen Behandlungen einschließlich einer Operation noch Zehengänger sind.

In den meisten Fällen ist keine Behandlung des Zehengangs nötig.

Fragen und Antworten zum Zehengang

Steht der Zehenspitzengang im ICD?

Im ICD hat der Zehenspitzengang keinen spezifischen Eintrag und er muss nicht zwangsläufig pathologisch sein. Je nach Ursache könnte eine ICD-Diagnose sein:

  • Q66.8: Sonstige angeborene Deformitäten der Füße
  • M24.5: Gelenkkontraktur

Kann der Zehenspitzengang auch bei Erwachsenen auftreten?

Auch Erwachsene können Zehengänger sein, entweder seit der Kindheit an oder weil sie den Zehengang später entwickelt haben. Der Zehengang kann sich aus verschiedenen Ursachen entwickeln. Er ist zum Beispiel eine häufige Form der Muskelkontraktion bei alten Menschen.

Quellen und Studien

Zuletzt bearbeitet am 20.05.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus