Wir sind autistisch und das ist gut so.

In Autismus-Foren und allgemein in Diskussionen rund um Behinderung spukt diese eigentümliche These, dass Autist_innen bzw. Behinderte froh und dankbar sein sollen, heute zu leben. Denn heutzutage sei man so human, Behinderte am Leben zu erhalten. In keinem anderen Zeitalter habe eine Gesellschaft ihre lebensunfähigen Mitglieder durchgefüttert. Im Gegenteil: man habe sie getötet oder sterben lassen.

Zur Begründung gibt es Gemeinplätze über das Altertum, wo angeblich schwächere Babys systematisch getötet wurden. Human heißt hier so viel wie barmherzig, großzügig und duldsam, und aus behindert wird kurzerhand lebensunfähig gemacht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Existenz Behinderter als eine schwere Last dar, die sich eine Gesellschaft ohne jeden Nutzen aufbürdet – sie duldet sie quasi aus reinster Barmherzigkeit und Großzügigkeit und offenbart damit ihre ethische Überlegenheit. Dieses Konstrukt basiert jedoch auf grundsätzlich falschen Annahmen:

  • Dass von der Norm abweichende Menschen immer und überall in der (medizinischen) Kategorie behindert zusammengefasst waren;
  • Dass Abweichungen von der Norm immer und überall als Makel galten, der einen Menschen wertlos machte, und dass betreffende Menschen einen außerordentlichen Beitrag leisten müssen, um trotzdem wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu sein;
  • Dass von der Norm abweichende Menschen ihren Lebensunterhalt grundsätzlich nicht bestreiten können und stets auf finanzielle Unterstützung anderer angewiesen sind;
  • Dass Behinderung ein inhärentes und objektivierbares Merkmal eines Menschen ist – und nicht eine soziale Konstruktion und ein kulturelles Ereignis.

Diese Annahmen haben den Blick vieler Wissenschaftler*innen so nachhaltig geprägt, dass sie historische Zusammenhänge im Rahmen dieser Glaubenssätze rekonstruieren und interpretieren. Dabei sind diese Vorstellungen so modern wie die Konstruktion und die Ermordung Behinderter auch, und es ist unverantwortlich und gefährlich, sie vergangenen Kulturen unterzuschieben, um ihren Fortbestand auf ein historisches Fundament zu stellen.

Mit Behinderung in der griechischen Antike befasst sich Martha L. Rose in ihrer empfehlenswerten Monographie »The Staff of Oedipus. Transforming Disability in Ancient Greece« und widerlegt darin sehr überzeugend einige der beliebten Mythen. Behinderung in der Antike

»Behinderung« in der griechischen Antike

Die Praxis, Menschen mit abweichenden Körpern in die (medizinische) Kategorie »körperbehindert« zusammenzufassen und ihnen dafür vorgesehene soziale Rollen zuzuweisen, gab es in der griechischen Antike nicht. Ein Handicap war kein medizinisches Phänomen, sondern eine Familienangelegenheit. Natürlich gab es physische Beeinträchtigungen, und natürlich hatten sie für betreffende Menschen Konsequenzen, aber diese waren individuell und situationsabhängig. Sie wurden bemerkt, kommentiert und auch verspottet – das bedeutet jedoch nicht, dass in der griechischen Antike Behinderte als Klasse verachtet wurden, oder dass man überhaupt eine solche Klasse konstruierte.[1]

Gängige Vorstellungen vom antiken Griechenland basieren auf neoklassizistischen Darstellungen idealisierter Schönheit. Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der Klassischen Archäologie, schrieb 1755 in seiner ersten Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst[2]:

Der schönste Körper unter uns wäre vielleicht dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher, als Iphikles dem Herkules, seinem Bruder, war. Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. Man nehme einen jungen Spartaner, den ein Held mit einer Heldin gezeugt, der in der Kindheit niemals in Windeln eingeschränkt gewesen, der von dem siebenten Jahre an auf der Erde geschlafen und im Ringen und Schwimmen von Kindesbeinen an war geübt worden.

Dieses Bild trügt, denn das antike Griechenland war geradezu bevölkert von Menschen mit vielerlei sichtbaren Anomalien, deren Vielfalt und Häufigkeit weit darüber hinaus gingen, was in westlichen Ländern von heute üblich ist. In einer Menschenmenge wären neben Körpern, über die Winckelmann phantasierte, Kinder mit Klumpfuß und Rachitis, Kriegsveteranen mit diversen Verletzungen, spastisch Gelähmte sowie Menschen mit allen möglichen körperlichen Andersartigkeiten. Es gab weder Impfungen noch Antibiotika. Physische Beeinträchtigungen waren in der Antike normal.

Auch wenn die griechische Sprache über eine Vielzahl von Vokabeln verfügt, die Zustände wie blind oder verkrüppelt beschreiben, gibt es keinen übergreifenden Terminus, der dem modernen behindert mit seinen sozialen und politischen Konnotationen entspräche.

Dauerhafte Handicaps gehörten nicht in die Domäne der Medizin, denn sie befasste sich mit heilbaren Erkrankungen. Die Vokabeln waren umgangssprachlich und unspezifisch, die Bedeutung ergab sich erst aus dem Kontext. Mit anderen Worten: es gab kein spezifisches oder gar medizinisches Vokabular, das zur Benennung von »Körperbehinderung« bei Menschen reserviert wäre.

In jeder Population der Vergangenheit und der Gegenwart gibt es Menschen mit physischen Beeinträchtigungen, doch die Medizin hat die Ursachen der Beeinträchtigungen verändert.

Einerseits leben in der heutigen Welt Menschen, die in der Antike nicht überlebt hätten. Zum Beispiel ist es erst seit den 60er Jahren möglich, Rückenmarkverletzungen zu überleben. Anderseits lebten damals Menschen mit Auffälligkeiten, die man heute in den westlichen Ländern nicht mehr sieht: Menschen mit Klumpfuß, mit falsch verheilten Knochenbrüchen oder mit den Folgen von Epidemien.

Selbst eine kleine Verletzung konnte bleibende Schäden hinterlassen. Knochenbrüche waren in der Antike häufig, und bei schlechter Heilung oder in Folge einer Infektion führten sie öfters zu dauerhaften Handicaps. Heute gilt es als selbstverständlich, dass selbst die schwersten Brüche mit medizinischer Behandlung heilen und keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Manchmal heilen Frakturen auch ohne medizinische Behandlung – aber nicht immer. Skelettfunde aus Griechenland zeigen verheilte Knochenbrüche, die zu einer Angulation und Verkürzung oder Verdickung der Knochen führten[3].

Manche Kriegsverletzungen verursachten dauerhafte Handicaps, falls man sie überlebte. the morphological deformities that arose are really beyond imagination at the present time (morphologische Missbildungen, die dabei entstanden, sind jenseits der Vorstellungskraft unserer Zeit), schreibt der Paleopathologe Srboljub Živanovi?[4]. Auch fehlende Gliedmaßen waren nicht selten. Neben Verletzungen und Infektionen hinterließen auch Krankheiten dauerhafte Folgen.

Ein wesentlicher Teil der griechischen Bevölkerung in der Antike bestand aus Menschen mit chronischen körperlichen Beeinträchtigungen. Viele der Ursachen, die zu bleibenden Handicaps führten, sind in der heutigen westlichen Welt behandelbar bzw. eliminiert worden. Unterstützung und Betreuung pflegebedürftiger Menschen war nicht die Aufgabe des Staates, sondern der Familie.

Menschen, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, wurden nicht (wie heute üblich) isoliert, sie waren und blieben Teil der Familie und der Gemeinschaft. Auch wenn man diese Praxis nicht idealisieren sollte – ebenso wie heute wird es damals Familien gegeben haben, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen misshandelt, weggeschlossen oder getötet haben, – bleibt, von diesen Ausnahmen mal abgesehen, festzuhalten, dass Menschen mit vielfältigen physischen Beeinträchtigungen ein normaler Teil der Bevölkerung waren.

Spartanische Eugenik?

Die Aussetzung unerwünschter Babys war in der griechischen Antike eine häufige Praxis. Auch der Ödipus-Mythos zeugt davon: Da das delphische Orakel dem König Laios von Theben prophezeit hatte, dass sein eigener Sohn ihn ermorden würde, ließ er den Neugeborenen an seinem dritten Lebenstag aussetzen. Die Fußknöchel des Kindes wurden durchstochen – daher erhielt er den Namen Ödipus, der als Schwellfuß übersetzt wird. Der Zweck dieser Aktion bestand offensichtlich darin, dem mit durchstochenen und gebundenen Füßen in der Wildnis des Kithairon-Gebirges ausgesetzten Säugling jegliche Überlebenschance zu nehmen.

Dieser Mythos handelt gewiss nicht von Aussetzung behinderter Babys, doch manche Leute kehren die Kausalität einfach um und erzählen, dass Ödipus aufgrund dieser Missbildung seiner Füße ausgesetzt worden sei. Keine antike Überlieferung lässt eine solche Deutung zu; ihre Akzeptanz resultiert allein aus der heutigen Tendenz, Kindermord mit Behinderung kausal zu verknüpfen.

Weil man heute davon ausgeht, dass behinderte Babys unerwünschte Babys waren, verbindet man die Praxis der Aussetzung Neugeborener in der griechischen Antike mit »Körperbehinderung«.

Dass die Griechen, insbesondere die Spartaner und die Athener, Neugeborene mit sichtbaren physischen Anomalien routinemäßig aussetzten, ist ein allgemein anerkannter Gemeinplatz sowohl in der Forschung als auch in der Populärkultur seit dem 19. Jh. Man ist sich dessen so sicher, dass es für unnötig gehalten wird, diese Annahme mit Belegen zu stützen.

Im Gegenteil wird bei jeder denkbaren Gelegenheit erwähnt, dass in Sparta schwächere Kinder ausgesetzt bzw. getötet worden wären, und auch in neuerer wissenschaftlicher Literatur pflanzen sich solche Mythen fort[5]:

Young children, weak children, female children, and especially children regarded as being defective were regularly strangled, drowned, buried in dunghills, “potted” in jars to starve to death, or exposed to the elements (with the belief that the gods had the responsibility of saving exposed infants). Concerned that defective infants would, once grown, pass on their defects to the next generation, the Greeks actively promoted the destruction of anomalous infants.

Auch in moderner Fachliteratur wird dieses Thema oft erstaunlich oberflächlich und undifferenziert dargestellt. Bei einer detaillierten Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Entscheidung, ob ein Kind aufgezogen oder ausgesetzt wird, von einer Vielzahl verschiedener Faktoren abhing. Das galt ebenso für Neugeborene mit sichtbaren Anomalien: die Entscheidung fiel nicht allein aufgrund der äußeren Erscheinung des Babys.

Die Quellen

Platons[6] und Aristoteles[7] staatsphilosophische Empfehlungen, alle Neugeborenen mit »Defiziten« zu beseitigen, belegt, dass es im IV. Jh. v. Chr. eben keine übliche Praxis war. Alle griechischen Quellen[8], die eine Selektion als minderwertig eingestufter Kinder empfehlen, bieten nur vage Beschreibungen und liefern keine konkreten Hinweise, was genau als Defekt angesehen wurde, und ob man diese Empfehlungen auch tatsächlich in der Praxis umgesetzt hat:
Platon, Politeia[9] (460 c):

So nehmen sie dann denk ich den Nachwuchs der Guten und tragen sie in die Hürde zu den Pflegerinnen, die in einem Teile der Stadt abgesondert wohnen; aber den der Geringeren, oder wenn von den andern ein gebrechliches Wesen erzeugt wird, so verbergen sie’s wie schicklich an einem unerforschlichen und unbekannten Ort.

Aristoteles, Politik (1335a):

Der Gesetzgeber muss aber auch darauf achten, dass die Neugeborenen körperlich nach seinen Vorstellungen geraten

Aristoteles, Politik(1335b):

Zur Aussetzung oder dem Aufziehen der Neugeborenen soll ein Gesetz vorschreiben, dass man kein behindertes Kind aufziehen darf;

Diese Übersetzung[10] zitiere ich nicht ohne Grund: Es gibt, wie bereits oben erwähnt, keine altgriechische Vokabel, die dem heutigen »behindert« entspricht. Aristoteles verwendet das Wort »peperomenon«, das richtig übersetzt verstümmelt oder verkrüppelt heißt. Die Gleichsetzung dieser körperlichen Zustände mit »behindert« ist eine sehr moderne und verfälscht die Aussage im antiken Text. Für den Übersetzer war diese vermeintliche Gleichung vermutlich selbstverständlich, und durch solche Selbstverständlichkeiten heutiger Wissenschaftler_innen pflanzen sich die Mythen von antiker Eugenik fort.

Folgende Stelle stammt aus Lykurgs Vita[11], einer fiktiven Biografie, die Plutarch aus überlieferten Legenden zusammenfasste. Plutarch war kein Geschichtsschreiber und hatte auch nicht den Anspruch, historische Ereignisse mit penibler Genauigkeit und Korrektheit zu schildern. Ob Lykurg, der im 7. vorchristlichen Jahrhundert gelebt haben soll, und dem sogenannte »Lykurgischen Reformen« zugeschrieben werden, wirklich existiert hat, ist fraglich. Von daher sollte diese Stelle nicht als Tatsachenbericht gelesen werden:

Offspring was not reared at the will of the father, but was taken and carried by him to a place called Lesche, where the elders of the tribes officially examined the infant, and if it was well-built and sturdy, they ordered the father to rear it, and assigned it one of the nine thousand lots of land; but if it was ill-born and deformed, they sent it to the so-called Apothetae, a chasm-like place at the foot of Mount Taÿgetus, in the conviction that the life of that which nature had not well equipped at the very beginning for health and strength, was of no advantage either to itself or the state. On the same principle, the women used to bathe their new-born babes not with water, but with wine, thus making a sort of test of their constitutions. For it is said that epileptic and sickly infants are thrown into convulsions by the strong wine and loose their senses, while the healthy ones are rather tempered by it, like steel, and given a firm habit of body.

Die informativste Quelle ist der Traktat »Gynäkologie« von Soranos von Ephesos. Soranos studierte in Alexandrien und war als praktizierender Arzt während der Herrschaft Trajans und Hadrians in Rom tätig. Er hat über 20 Werke verfasst, »Gynäkologie« gilt als das bedeutendste davon. Ein Kapitel[12] dieses Werks ist der Frage gewidmet, wie man erkennt, ob es sich lohnt, ein Neugeborenes aufzuziehen, und enthält in Bezug auf das Kind folgende Hinweise:

Furthermore by the fact that when put on the earth it immediately cries with proper vigor; for one that lives some length of time without crying, or cries but weakely, is suspected of behaving so on account of some unfavorable condition. Also by the fact that it is perfect in all its parts, members and senses; that it ducts, namely of the ears, nose, pharynx, urethra, anus are free from obstruction; that the natural functions of every [member] are neither sluggish not weak; that the joints bend and stretch; that it has due size and shape and is properly sensitive in every respect. This we may recognize from pressing the fingers against the surface of the body, for it is natural to suffer pain from everything that pricks and squeezes. And by conditions contrary to those mentioned, the infant not worth rearing is recognized.

Soranos lehnt die Methode ab, Neugeborene in kaltem Wasser zu baden, um sie abzuhärten oder sie sterben zu lassen, wenn sie die Kälte nicht aushalten, oder sie in Wein einzutauchen, um Epilepsie zu erkennen[13]:

Certainly, the fact that the child did not withstand the injury does not prove that it was impossible for it to live if unharmed; more resistant children will also thrive better if not harmed in any way.

Anachronismus der Forschung

Das häufige Problem bisheriger Forschung liegt in einer anachronistischen Übertragung moderner Vorstellungen und Standards bezüglich Normalität und Behinderung auf kulturelle Zusammenhänge, von denen nur spärliche Zeugnisse vorliegen, und ohne soziale und psychologische Realitäten zu berücksichtigen, in welche die Kinder hinein geboren wurden.

Die Vorstellung von der Aussetzung »behinderter« Kinder hat sich im Bewusstsein vieler Wissenschaftler_innen so gründlich verwurzelt, dass sie in ihren Publikationen haltlose Behauptungen darüber aufstellen, wen die Griechen aussetzten und warum. Zum Beispiel haben einige Forscher_innen gemeint, dass man gehörlose Babys ausgesetzt hätte. Aber eine angeborene Gehörlosigkeit bei Neugeborenen festzustellen, ist auch heute noch sehr schwierig, trotz moderner Technologien und ausgefeilter Diagnostikverfahren bleibt sie oft Monate oder Jahre unerkannt. In der Antike war es schlicht unmöglich, festzustellen, ob ein Baby gehörlos oder schwerhörig war, und ob es sich um einen temporären oder dauerhaften Zustand handelte.

Die spärliche Quellenlage erlaubt keine allgemeinen Aussagen über das Schicksal Neugeborener mit sichtbaren Abweichungen in der griechischen Antike. Ein körperlich abweichendes Kind als biologische Einheit ruft an sich noch keine bestimmte Reaktion bei seinen Eltern hervor. Seine Geburt und die Reaktion darauf finden in einem kulturellen Kontext statt. Kinder mit physischen Anomalien sind nicht per se abstoßend – erst in einer größeren sozialen Struktur gelten bestimmte Gruppen als erwünscht oder unerwünscht. Um Aussagen über Reaktionen auf körperliche Abweichungen zu machen, muss erst das kulturelle Setting rekonstruiert werden, in dem die Abweichung und die Reaktion darauf stattfand.

Ästhetische Selektion?

Bevor man ästhetischen Überlegungen nachgeht, sollte man sich den Unterschied zwischen der heutigen westlichen Welt und der (griechischen) Antike vor Augen führen. Heute erwartet man, zumindest in den westlichen Kulturen, dass das Kind, das man bekommt, den körperlichen Schönheitsvorstellungen entspricht.

Um das zu gewährleisten, werden entsprechende Maßnahmen getroffen wie Fruchtwasseruntersuchung und diverse Tests. In der Antike wäre man dagegen nicht schockiert, wenn das Baby die eine oder andere Anomalie aufweist. Eine Geburt war damals kein medizinisches Ereignis, Kinder mit Abweichungen wurden nicht pathologisiert. Sie galten auch nicht automatisch als minderwertig, unattraktiv oder behandlungsbedürftig – diese Vorstellungen werden von medizinischen und kulturellen Werten der Gegenwart diktiert.

Normvorstellungen gab es in der Antike auch, jedoch waren sie undefiniert und kontextgebunden. Festgelegte Standards der Normalität menschlicher Körper sind relativ neu und hängen mit der Entwicklung der Statistik im 19. Jahrhundert und der Eugenik im 20. Jahrhundert zusammen.

Mit anderen Worten: die strengen Messwerte von heute, die die Grenze zwischen Norm und Abweichung festlegen, gab es in der Antike nicht; ein Kind, bei dem man heute Missbildungen diagnostizieren würde, muss in der Antike nicht zwingend ein inakzeptables Baby gewesen sein.

Angesichts des griechischen Ideals von Symmetrie und Gleichgewicht wundert es nicht, dass körperliche Makel vom ästhetischen Gesichtspunkt aus negativ bewertet wurden, aber ästhetische Konsequenzen hingen vom jeweiligen Kontext ab. Einen abweichenden Körper als hässlich, komisch oder beides zu betrachten, ist etwas völlig anders, als der institutionalisierte Horror vor einer körperlichen Beeinträchtigung, den die Medien der Gegenwart widerspiegeln.

Sicher brachte man in der griechischen Antike keine Babys um, nur weil man sie hässlich fand. Im Gegenteil: Kinder aus ästhetischen Gründen zu töten, war ein der griechischen Kultur so fremdes Konzept, dass Diodor im 1. Jh. v. Chr. sein Publikum mit Märchen von einer utopischen Insel unterhalten konnte, deren durchweg langlebige und gesunde Bewohner per Gesetz verpflichtet waren, im Fall einer Erkrankung Selbstmord zu begehen[14]:

And the inhabitants, they tell us, are extremely long-lived, living even to the age of one hundred and fifty years, and experiencing for the most part no illness. Anyone also among them who has become crippled or suffers, in general, from any physical infirmity is forced by them, in accordance with inexorable law, to remove himself from life.

Eine andere Anekdote, die Diodor erzählte, handelte von Indien[15]:

All the functions of this state are directed toward the acquiring of good repute, and beauty is valued there more than anything. From birth, their children are subjected to a process of selection. Those who are well formed and designed by nature to have a fine appearance and bodily strength are reared, while those who are bodily deficient are destroyed as not worth bringing up. So they plan their marriages without regard to dower or any other financial consideration, but consider only beauty and physical excellence.

Weil in Indien nichts wertvoller als Schönheit war, unterwarf man Neugeborene einer Selektion: wohl geformte Babys, die von Natur aus prädestiniert sind, gut auszusehen und physisch stark zu sein, wurden aufgezogen, während Babys mit körperlichen Defiziten getötet wurden. Diodors Geschichten zeigen, dass dieser Umgang in Griechenland des ersten vorchristlichen Jahrhunderts als fremdartig und exotisch empfunden wurde. Das widerlegt wiederum die Annahme, dass man Neugeborene aus ästhetischen Gründen aussetzte.

Ökonomische Last?

Sehr verbreitet ist die Mutmaßung, dass »behinderte« Kinder aus ökonomischen Überlegungen ausgesetzt bzw. getötet wurden: man geht davon aus, dass sie – würden sie aufwachsen – eine wirtschaftliche Belastung darstellen würden.

In der Tat ist die wirtschaftliche Rolle, die man in einer Gemeinschaft spielt, maßgeblich für die Akzeptanz und die Integration in dieser Gemeinschaft. Doch die Gleichsetzung körperlicher Beeinträchtigung mit finanzieller Abhängigkeit ist ein modernes Modell. Es gibt keinen immanenten Grund, weshalb ein Mensch auch mit einem signifikanten physischen Handicap keine wirtschaftlich produktive Rolle spielen könnte – körperliche Beeinträchtigung an sich macht nicht finanziell abhängig.

Die Quellen zeigen, dass Menschen mit physischen Abweichungen, die ihren Lebensunterhalt verdienten, in der Antike keine Seltenheit waren, und dass man sie nicht automatisch für wirtschaftlich untauglich (erwerbsunfähig) hielt. Der Gott des Feuers und der Schmiede, Hephaistos, zeigte, dass sein ästhetischer Makel und Handicap – er war lahm – ihn nicht daran hinderte, geschickt und produktiv zu sein.

Die Geburt eines Babys mit beispielsweise Klumpfuß war kein finanzielles Desaster. Womöglich galt es als Schandfleck und hatte religiöse Folgen, denn es disqualifizierte die betreffende Person, Priester zu werden. Aber niemand wurde ausgesetzt oder getötet, nur weil er kein Priester werden könnte.

Tüchtige Krieger und fruchtbare Mütter

Gesellschaftliche Teilhabe fand im antiken Griechenland für Frauen und für Männer in verschiedenen Sphären statt.

Der Wert und der gesellschaftliche Status eines Mannes wurde an seiner militärischen Eignung gemessen, und Männer mit diversen körperlichen Beeinträchtigungen beteiligten sich tatsächlich an militärischen Aktionen. Plutarch erzählt von einem humpelnden Spartaner, der erklärt, dass das Humpeln ihn nicht daran hindert, in der Schlacht zu kämpfen – es geht schließlich nicht darum, wegzulaufen, sondern darum, standzuhalten[16]:

A lame man was going forth to war, and some persons followed after him laughing. He turned around and said, »You vile noddles! A man does not need to run away when he fights the enemy, but to stay where he is and hold his ground.«

Über einen Spartaner Androkleidas gibt es eine ähnliche Anekdote[17]:

Androcleidas the Spartan, who had a crippled leg, enrolled himself among the fighting-men. And when some persons were insistent that he be not accepted because he was crippled, he said, “But I do not have to run away, but to stay where I am when I fight the opposing foe.«

Auch der krummbeinige, lahme und bucklige Tersites wurde nicht aus der Armee ausgeschlossen, wie Homer überliefert[18]:

Als der hässlichste Mann war er nach Troja gekommen:
Krumm die Beine, auf einem Fuß hinkend, die Schultern, die beiden,
Bucklig, zur Brust hin zusammengebogen; aber darüber
Lief ihm der Kopf spitz zu, drauf sproßte spärliche Wolle.

Plutarch überliefert auch eine Anekdote über Philipp II., dem sein Sohn Alexander der Große sagte, er soll nach seiner Schenkelverletzung weiter gehen und bei jedem Schritt an seinen Heldenmut denken[19]:

When the thigh of his father Philip had been pierced by a spear in battle with the Triballians, and Philip, although he escaped with his life, was vexed with his lameness, Alexander said, “Be of good cheer, father, and go on your way rejoicing, that at each step you may recall your valour.”

Natürlich reflektieren diese Geschichten vielmehr die Vorstellungen Plutarchs von spartanischer und makedonischer Tugend vergangener Zeiten als die tatsächlichen Erfahrungen der genannten Krieger. Dennoch machen sie deutlich, dass man humpeln und am Kampf aktiv teilnehmen konnte. Auch Männer, die gar nicht laufen konnten, konnten Kriegsdienst leisten – wenn auch nicht an der vordersten Front. Plutarch erwähnt einen Artemon, der Belagerungsmaschinen konstruierte[20]. Artemon war gelähmt und musste zu allen seinen Projekten getragen werden.

Für Frauen sah es im antiken Griechenland anders aus: eine Frau zu sein, galt an sich schon als Behinderung. Aristoteles hielt Frauen für deformierte Männer[21], und diese Vorstellung spiegelt ihre gesellschaftliche Stellung wider. Frauen waren keine richtigen Bürger, ihr gesellschaftlicher Wert wurde an ihrer Fähigkeit gemessen, künftige Bürger zu gebären. Die Frage ist also, ob körperlich abweichende bzw. beeinträchtigte Frauen diese Funktion erfüllen durften.

Zwei Stellen bei Herodot handeln von Frauen, die man heute als »behindert« beschreiben würde:
Die Geschichte von Labda spielt im 7 Jh. v. Chr. in Korinth[22]. Labda war eine Tochter der herrschenden Familie der Bakchiaden, und weil sie lahm war, wollte sie kein Bakchiade heiraten. Also heiratete sie in den konkurrierenden Klan ein und gebar Kypselos, der später die Bakchiaden stürzte und die Herrschaft über Korinth übernahm.

In der anderen Geschichte[23] erzählt Herodot, wie man Frauen in Babylon zu verheiraten pflegte: in jedem Dorf versammelte man alljährlich sämtliche Frauen im heiratsfähigen Alter auf einem Platz, die Männer standen um sie herum. Die Versteigerung begann mit der schönsten Frau, die Männer gaben ihre Gebote ab, die reichsten Männer ersteigerten die schönsten Frauen. Einfachere Männer kümmerten sich kaum um die Schönheit und akzeptierten weniger attraktive Bräute – mit etwas Gold als Mitgift. Sobald die schönen Frauen ausverkauft waren, rief man eine Frau auf, die unförmig oder verkrüppelt war, und fragte, wer sie heiraten wolle und am wenigsten Gold dafür verlange, bis sie einen Käufer fand. Das Gold kam von Verkauf der schönen Bräute, und so statteten die schönen Frauen die weniger attraktiven aus. So Herodot.

Andere schriftliche Quellen über Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind nicht erhalten, aber die genannten Texte zeigen, dass:

  1. Physische Eigenschaften wie fehlende Gliedmaßen oder welke Erscheinung galten bei Frauen als unansehnlich, jedoch nicht als Behinderung.
  2. Solche Eigenschaften hinderten die Frauen nicht unbedingt daran, ihre sozial vorgeschriebene Aufgabe – Kinder zu bekommen – zu erfüllen.

Auch wenn die spärliche Quellenlage weiterführende Interpretationen verbietet, offenbart sie den Unterschied zwischen der gegenwärtigen Konstruktion »Behinderung« und der Situation im antiken Griechenland, wo fähig oder unfähig von individuellen Umständen abhing. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass nur die Oberschicht in solcher Überlieferung sichtbar ist, während der Großteil griechischer Bevölkerung aus einfachen Leuten bestand, die in ländlichen Regionen lebten.

In Gesellschaften, die ihr Humankapital nicht verschwenden, werden Aufgaben nach den Fähigkeiten zugeteilt. Männer, die nicht in der Lage waren, an vorderster Front zu kämpfen, leisteten Garnisondienst. Und physische Eigenschaften wie zum Beispiel ein fehlendes Bein oder eine Sehschwäche führen nicht notwendigerweise dazu, dass man die Alltagsaufgaben nicht bewältigen kann. Frauen, die keine körperlich anspruchsvollen Arbeiten erledigen konnten, werden andere Aufgaben übernommen haben – zum Beispiel erfordert Jäten weniger Mobilität als Dreschen.

Die Geschichte von Labda zeigt, dass ihre Lahmheit zwar ihren ästhetischen Wert minderte, aber diese ästhetische Abwertung keinen Einfluss auf ihre Eignung für die Mutter-Rolle hatte. Das trifft auch auf die Geschichte mit der babylonischen Bräute-Versteigerung zu. Körperlicher Makel war ein Auswahlkriterium nur für die, die sich Ästhetik leisten konnten. Herodot vergleicht unförmige (darunter auch verkrüppelte oder verstümmelte) Frauen mit schönen Frauen – und nicht mit nichtbehinderten.

Unfruchtbarkeit – und nicht etwa ein unförmiger Körper – hatte schwerwiegende Konsequenzen. Ein fehlendes Körperteil oder ein asymmetrischer Körper dagegen hatte zwar bei neugeborenen Mädchen ästhetische Folgen, beeinträchtige aber nicht ihre Eignung für die primäre Aufgabe, die in der griechischen Gesellschaft Frauen zugewiesen war.

Griechische Mythen – moderne Mythen

Nach dieser umfassenden Betrachtung ästhetischer, ökonomischer, religiöser und bürgerlicher Aspekte kommt Rose zu dem Schluss[24], dass körperliche Abweichungen in der griechischen Antike nicht unbedingt als negativ, als Horror, als Zeichen von Krankheit oder von finanzieller Abhängigkeit wahrgenommen wurden. Daher muss ein Baby mit abweichendem Körper kein unerwünschtes Baby gewesen sein. Das erhaltene Quellenmaterial erlaubt nicht die Aussage, dass ihre Ermordung eine Standardpraxis war.

In diesem kulturellen Kontext galten Leute mit physischen Anomalien nicht grundsätzlich als böse, wertlos oder krank. Moderne Annahmen über ökonomischen Wert und ästhetische Attraktivität von körperlich abweichenden Menschen, eingewickelt in medizinische Standards der Gegenwart, sind kein geeigneter Interpretationsrahmen für Zeugnisse über den Umgang mit abweichenden Neugeborenen in der griechischen Antike. Verschiedene Faktoren – Bequemlichkeit, Machbarkeit, Ästhetik – mögen die Entscheidung geprägt haben, ob ein Baby aufgezogen wurde oder nicht, aber »Behinderung«, so wie sie in der westlichen Welt von heute konzipiert wird, gehörte nicht dazu.

Erst im 18 Jh. soll nach Ansicht von Lennard Davis[25] eine separate Kategorie entstanden sein für Menschen mit körperlichen Abweichungen als Objekte des Mitleids und der Furcht, die Wohltätigkeit und Verachtung verdienen[26]. Diese Attitüde gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen als Gruppe zeigt sich in den griechischen Quellen nicht. Man machte sich über sie lustig, man hänselte sie, aber das beweist noch lange nicht, dass die Griechen ihren abweichenden Nachwuchs töteten.

Warum ist dieser Gedanke heutzutage so beliebt? Sowohl in den altgriechischen als auch in modernen Utopien werden in der idealen Gesellschaft nicht-ideale Mitglieder schon im Ansatz erstickt. Die drastische Darstellung antiker Kindermord-Praktiken soll das Unbehagen unserer Zeitgenossen in Bezug auf Behinderung und die Bestrebungen unserer Kultur, die Welt von »Behinderten« zu befreien, rechtfertigen.

Man malt sich eine Gesellschaft aus, die ihre abweichenden Kinder routinemäßig aussetzte, und vergleicht damit unsere fortschrittliche Gesellschaft, in der es zwei Gruppen gibt: uns – die Nichtbehinderten, und die – die Behinderten. Man gibt »denen« nette Bezeichnungen, man behandelt sie fast normal und man glotzt nicht. Man behandelt heute Behinderte besser als die Griechen damals, nämlich mit Barmherzigkeit.

Man kann sie heilen, rehabilitieren, normal machen.

Und wenn man feststellt, dass sie nicht das Potential zu einer Helen Keller oder einem Stevie Wonder mitbringen, sorgt man dafür, dass sie gar nicht erst geboren werden.

Die beliebte Geschichte über die Aussetzung »behinderter« Babys in Athen oder Sparta sagt viel mehr über unsere Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen aus, als über die griechische Gesellschaft in der Antike.



Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.