Wir sind autistisch und das ist gut so.

Die ZeitfalteAutistische Kinder haben meist wenig Vorbilder. Während neurotypische Kinder in vielen Kinderbüchern und -filmen Vorbilder finden, mit denen sie sich identifizieren können, ist es für autistische Kinder oft schwer, ihre besonderen Charakteristiken in wertschätzender Weise repräsentiert zu sehen.
Ich möchte heute ein Kinderbuch mit vielen interessanten, »geekigen« und exzentrischen Charakteren vorstellen: Es heißt »Die Zeitfalte« von Madeleine L’Engle und feiert in diesem Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag.
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Der Inhalt

Jeder im Ort denkt, dass Meg Murry launisch und begriffstutzig ist, und dass ihr jüngerer Bruder Charles Wallace, zurückgeblieben ist – während die Zwillinge Dennys und Sandy als die »Normalen« in der Familie gelten und allgemein beliebt sind. Die Leute sagen auch, dass ihr Vater, ein Physiker, abgehauen ist und ihre Mutter, ebenfalls eine brilliante Naturwissenschaftlerin, verlassen hat.
Angestachelt von diesen Gerüchten und der ungewöhnlichen alten Dame Frau Wasdenn lassen sich Meg, Charles Wallace und ihr Freund Calvin O’Keefe auf eine gefährliche Suche nach ihrem Vater ein – quer durch das Weltall. Dazu müssen sie hinter dem Schatten einer bösen Macht reisen, die den Kosmos verdunkelt, einen Planeten nach dem anderen. »Die Zeitfalte« ist weder eine Superhelden-Geschichte noch Science Fiction, obwohl es Züge von beiden hat. Die Reisenden müssen auf ihre individuellen sowie ihre gemeinschaftlichen Stärken vertrauen, müssen tief in sich selbst nach Antworten suchen.

Unsere Talente können wir uns nicht als Verdienste anrechnen. Es kommt darauf an, wie wir sie verwenden.

– Madeleine L’Engle

Autismus?

Madeleine L’Engle schrieb »Die Zeitfalte« um 1960. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie irgendwelche ihrer Charaktere mit dem Begriff »Autismus« assoziiert hat. Nichtsdestotrotz finden wir in einigen von ihnen viele Eigenschaften (und Schwierigkeiten), die wir heute mit den Begriffen »Autismus« oder »Asperger-Syndrom« in Verbindung bringen – und sie sind wundervolle, starke Charaktere.
Meg Murry ist eine Außenseiterin in der Schule. Wie viele Teenager ist sie mit ihrem Aussehen unzufrieden, besonders mit ihrem mausbraunen, widerspenstigem Haar, ihrer Zahnspange und Brille. Sie ist ungeschickt, unbeliebt und abweisend gegenüber Authoritätspersonen genauso wie gegenüber Gleichaltrigen. Ihre Familie weiß, dass sie emotional unreif ist, aber sie sehen auch, dass sie imstande ist, tolle Sachen zu machen. Doch ihre Mitschüler_innen und die Lehrkräfte sehen sie nur als Störenfried.
Auch ihre Fähigkeiten scheint Meg nicht nutzen zu können. Sie ist ihrer Klasse in Mathematik eigentlich Jahre voraus, trotzdem bekommt sie immer schlechte Noten. Denn sie findet eigene Lösungswege, die zwar zum richtigen Ergebnis führen, aber keine Punkte bringen. Mehr noch, durch die schlechten Erfahrungen im Unterricht hat Meg eine Blockade gegenüber dem Unterrichtsstoff entwickelt. Sie hat große Selbstzweifel und ist unglücklich, weil sie den üblichen Anforderungen nicht entsprechen kann.

A Wrinkle in Time, englische Originalausgabe

'A Wrinkle in Time', englisches Original

Megs jüngerer Bruder Charles Wallace hat überhaupt nicht gesprochen, bis er vier war, dann sprach er gleich in ganzen Sätzen. Jetzt, mit fünf Jahren, spricht er selten mit irgendjemandem außer seiner Familie, obwohl sein Wortschatz weit größer ist als der eines durchschnittlichen Fünfjährigen. Er ist sensibel und erkennt sehr genau die Gefühle seiner Schwester und Mutter – fast so, als könnte er Gedanken lesen. Die Leute sehen Charles Wallace als zurückgeblieben an, doch er ist hochintelligent – was sein Leben nicht unbedingt einfacher macht.
Und Meg und Charles Wallace sind nicht die einzigen exzentrischen Charaktere im Buch. Drei außerirdische Wesen, die in Form der liebenswerten alten Damen Frau Wasdenn, Frau Diedas und Frau Dergestalt auftreten, haben ebenfalls ihre ihre Schrullen.
Frau Dergestalt kommuniziert zum Beispiel vor allem über Zitate:

“Finxerunt animi, raro et perpauca loquentis,” intonierte Frau Dergestalt. “Horaz. Taten sprechen lauter als Worte.”
“Frau Dergestalt, ich wünschte, Du würdest aufhören zu zitieren!” Charles Wallace klang sehr genervt.
Frau Wasdenn richtet ihre Stola neu. »Aber sie findet es so schwierig, sich in Worten auszudrücken, Charles, mein Lieber. Es hilft ihr, wenn sie zitieren kann, statt eigene Worte zu finden.«

(Von mir aus der englischen Ausgabe übersetzt, weil ich die deutsche nicht vorliegen habe.)

Viele autistische Kinder haben eine ähnliche Herangehensweise zu Sprache: Sie fangen an zu sprechen, indem sie Sätze wiederholen, die sie anderswo gehört haben.
Übrigens werden auch Kompetenzen, die charakteristisch für neurotypische Menschen sind, nicht als selbstverständlich betrachtet, sondern als erwähnens- und schätzenswerte Fähigkeiten gezeigt. So gilt Kommunikation zum Beispiel als besondere Stärke von Calvin O’Keefe, der sich zusammen mit Meg und Charles Wallace ins die Suche nach deren Vater stürzt.

Ein Kinderbuch-Klassiker

Im englischsprachigen Raum ist »Die Zeitfalte« (Original: »A Wrinkle in Time«) von Madeleine L’Engles ein Kinderbuch-Klassiker; im deutschsprachigen Raum ist das Buch bisher eher unbekannt geblieben. Schade – denn »Die Zeitfalte« ist anspruchsvoll und gleichzeitig warmherzig geschrieben, durchzogen von geheimnisvollen Rätseln und starken Freundschaften.

Mir gefällt es, dass die großen Maler der antiken chinesischen Kunst immer einen absichtlichen Makel in ihr Werk eingebaut haben: Menschliches Schaffen ist niemals perfekt.

– Madeleine L’Engle

Dass Menschen unterschiedlich sind, verschiedene Stärken und Schwächen haben, ist ein zentrales Thema des Buches, ebenso wie die unterschiedlichen Reaktionen auf solche Unterschiede. Kommunikation und Kommunikationsprobleme werden auf verschiedenen Ebenen thematisiert.
Megs zunächst niederschmetternde, letztlich aber befreiende Erkenntnis, dass ihr Vater nicht allmächtig ist, stellt in überzeugender Weise ein Element eines Coming-of-Age Romans, einer Geschichte über das Erwachsenwerden dar. Die Leser_innen begegnen wie die Held_innen der Geschichte herausfordernden Konzepten von Zeit, Raum und erleben den Triumph des Guten über das Böse.
Das Buch, das mit der prestigeträchtigen Newbery Medal ausgezeichnet wurde, richtet sich an junge Leser_innen im Alter von 9-14 Jahren.

Weitere Bücher aus der Reihe

A Wind in the Door von Madeleine L'Engle
Madeleine L’Engle schrieb drei voneinander unabhängig lesbare Fortsetzungen für »Die Zeitfalte«, und weitere vier Fortsetzungen, die die Abenteuer der zweiten Generation beschreiben, d.h. die von Polly O’Keefe, Tochter von Megan Murry und Calvin O’Keefe. Madeleine L’Engle schrieb zeitweise an beiden Reihen parallel.

  • Erste Generation (Familie Murry)
    • Die Zeitfalte (A Wrinkle in Time) (1962)
    • Der Riss im Raum (A Wind in the Door) (1973)
    • Durch Zeit und Raum (A Swiftly Tilting Planet) (1978)
    • Die große Flut (Many Waters) (1986)
  • Zweite Generation (O’Keefe)
    • The Arm of the Starfish (1965)
    • Dragons in the Waters (1976)
    • A House Like a Lotus (1984)
    • An Acceptable Time (1989)

Madeleine L’Engle

Die Autorin Madeleine L’Engle (1918–2007) schrieb mehr als 60 Bücher für Kinder und Erwachsene, »Die Zeitfalte« ist das bekannteste davon.
Sie wurde in New York als Tochter des Journalisten und Autors Charles Wadsworth Camp und der Pianistin Madeleine Hall Barnett Camp geboren. Mit fünf Jahren schrieb sie ihre erste Geschichte und sie führte Tagebuch, bis sie acht war. Diese frühen literarischen Versuche ließen sich allerdings nicht in schulische Erfolge umwandeln. Madeleine L’Engle war ein schüchternes, unbeholfenes Kind und einige ihrer Lehrerinnen stempelten sie als dumm ab. Weil L’Engle nicht in der Lage war, ihre Lehrerinnen zufriedenzustellen, zog sie sich in ihre eigene Welt der Bücher und des Schreibens zurück.

Als wir Kinder waren, dachten wir, wenn wir erwachsen wären, wären wir nicht mehr verwundbar. Aber erwachsen zu werden, heißt, Verwundbarkeit zu akzeptieren… Am Leben zu sein heißt, verwundbar zu sein.

– Madeleine L’Engle

Madeleine L’Engle wurde von einem Internat ins nächste geschickt und dort von ihren Klassenkameradinnen ausgegrenzt. Diese Erfahrungen hatten zur Folge, dass viele ihrer Bücher von starken, glücklichen Familien handeln und von den Schwierigkeiten von Außenseitern, mit ihren Altersgenossen zurecht zu kommen.
Auch L’Engles starkes Interesse an Naturwissenschaften ging in ihre Geschichten ein. Besonders in der »Zeitfalte« und den weiteren Büchern dieser Reihe kommt ihr Interesse an Quanten- und Astrophysik und Chaostheorie deutlich zutage.
Von 1937 bis 1941 ging L’Engle auf das Smith College in den USA. 1942 arbeitete sie im Theater, wo sie ihren späteren Ehemann, den Schauspieler Hugh Franklin kennenlernte. 1946 heirateten sie, ein Jahr nach der Veröffentlichung von L’Engles erstem Buch, »The Small Rain«.

Du musst das Buch schreiben, das geschrieben werden will. Und wenn das Buch für Erwachsene zu schwierig zu verstehen ist, dann schreibst Du es für Kinder.

– Madeleine L’Engle

Auf einer zehnwöchiger Campingreise quer durchs Land hatte Madeleine L’Engle die Idee für »Die Zeitfalte«, das später zu ihrem bekanntesten Buch wurde. 1960 hatte sie es fertig geschrieben, aber mehr als zwei Dutzend Verlage lehnten das Manuskript ab. Erst Farrar, Straus and Giroux veröffentlichten es schließlich im Jahr 1962.
Während der 60er, 70er und 80er Jahre schrieb L’Engle Dutzende Bücher für Kinder und Erwachsene. Zeitweise unterrichtete sie nebenher als Lehrerin und arbeitete als Bibliothekarin. Sie hielt Vorträge und gab Seminare, bis sie im hohen Altern an Osteoporose litt und eine Hirnblutung erlitt. 2007 starb sie in Litchfield, Connecticut.
Madeleine L’Engle und ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen und Würden ausgezeichnet.
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Zuletzt bearbeitet am 01.02.2022.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus